Die lange Dauer: Was uns Barcelonas Geschichte über die Vielschichtigkeit der Zeit lehrt

Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit Claude entstanden – im Dialog zwischen meinen Gedanken und den Möglichkeiten eines KI-Modells, das bei der Strukturierung und Ausformulierung geholfen hat. Die Perspektiven sind meine, die Umsetzung ist gemeinschaftlich.

Der französische Historiker Fernand Braudel entwickelte in den 1940er Jahren einen Ansatz, der genau diese Frage zu beantworten versuchte. Seine longue durée, die lange Dauer, sollte nicht einfach nur eine Methode sein, um Vergangenheit zu verstehen. Sie war ein Werkzeug, um die Gegenwart zu entziffern und Zukunft denkbar zu machen. Gerade heute, wo ständig versichert wird, dass es keine Alternative gibt, dass Beschleunigung alternativlos sei, dass bestimmte Entwicklungen naturgesetzlich ablaufen, lohnt es sich, Braudels Blick auf die Zeit wiederzuentdecken.

Drei Zeiten, ein Barcelona

Braudel unterschied drei Zeitebenen, die sich überlagern und durchdringen. Nicht als abstrakte Kategorien, sondern als konkrete Realitäten, die er bei seiner Arbeit über das Mittelmeer im 16. Jahrhundert entdeckte. Schauen wir uns Barcelona durch diese drei Linsen an.

Erstens: Die fast unbewegliche Zeit der Geographie. Barcelona liegt dort, wo das katalanische Küstengebirge ans Mittelmeer stößt. Das Delta des Llobregat bildet eine geschützte Bucht. Dahinter türmen sich Berge auf, die die Stadt vom kastilischen Hochland trennen. Diese Konstellation verändert sich über Jahrhunderte kaum. Sie schafft Bedingungen: Das mediterrane Klima ermöglicht Wein und Olivenöl, aber keine extensive Landwirtschaft. Die Berge im Rücken begrenzen die Expansion ins Hinterland. Die Küstenlage macht den Seehandel nicht zur Option, sondern zur Notwendigkeit.

Das ist keine Determinierung im engeren Sinn. Die Geographie schreibt nicht vor, was geschehen muss. Aber sie zeichnet vor, was möglich ist, wo Widerstände lauern, welche Entwicklungen sich leichter bahnen als andere. Sie ist, wie Braudel es ausdrückte, der Rahmen für Möglichkeiten, Hindernisse und Herausforderungen des menschlichen Handelns.

Zweitens: Die mittlere Dauer der Strukturen und Konjunkturen. Hier bewegen sich die Zeiträume zwischen Jahrzehnten und einigen Jahrhunderten. Im 13. und 14. Jahrhundert wird Barcelona zu einer der mächtigsten Hafenstädte des Mittelmeers. Katalanische Kaufleute und Seefahrer bauen ein Handelsnetz auf, das bis Konstantinopel reicht. Die Stadt erobert die Balearen, später Sizilien. Es entsteht eine maritime Tradition, eine Händlerkultur, rechtliche Strukturen für den Fernhandel. Institutionen, die sich über Generationen stabilisieren.

Dann, im 15. und 16. Jahrhundert, verschiebt sich die Welt. Die Entdeckung Amerikas verlagert die Handelsrouten nach Westen. Der Atlantik gewinnt gegenüber dem Mittelmeer an Bedeutung. Barcelona, das nach Osten blickt, gerät ins Hintertreffen. Die Stadt erlebt einen langsamen, aber tiefgreifenden Niedergang. Die alten Strukturen funktionieren nicht mehr, aber neue etablieren sich nur zögerlich.

Im 19. Jahrhundert dann die Industrialisierung. Textilfabriken entstehen, später auch Metallverarbeitung. Barcelona wird zum Manchester Spaniens. Wieder verändert sich die soziale Struktur: Eine Arbeiter*innenbewegung entsteht, anarchistische und sozialistische Ideen finden Anhänger*innen, Klassenkonflikte prägen die Stadt. Diese Konstellation hält sich über Jahrzehnte, durch Monarchie, Republik, Diktatur hindurch, immer wieder transformiert, aber erkennbar.

Drittens: Die kurze Dauer der Ereignisse. Hier ticken die Uhren im Rhythmus von Jahren, Monaten, Tagen. 1714 wird Barcelona nach monatelanger Belagerung erobert und verliert seine Autonomie. 1888 findet die erste Weltausstellung statt, ein bewusster Versuch, die Stadt zu modernisieren. 1909 die Semana Trágica, eine Woche des Aufstands gegen die Einberufung von Arbeitern zum Krieg in Marokko. 1936 der Ausbruch des Bürgerkriegs. 1992 die Olympischen Spiele und mit ihnen eine radikale urbane Transformation.

Diese Ereignisse sind nicht bedeutungslos. Sie sind die Momente, in denen sich Strukturen verdichten, in denen Weichen gestellt werden, in denen sich zeigt, was möglich ist. Aber sie sind nur verständlich vor dem Hintergrund der beiden anderen Zeitebenen. Die Olympiade 1992 wäre undenkbar ohne die geographische Lage am Meer, ohne die industrielle Tradition, ohne die spezifische Konfiguration von lokaler Identität und spanischem Zentralismus, die sich über Jahrhunderte herausgebildet hatte.

Warum das für die Gegenwart zählt

Braudels Ansatz entstand nicht aus antiquarischem Interesse. Er schrieb sein Hauptwerk in deutscher Kriegsgefangenschaft, ohne Zugang zu seinen Notizen. Die Konzentration auf lange Zeiträume war auch ein Versuch, der Enge des Lagers zu entkommen und der Enge einer Geschichtsschreibung, die nur Könige und Schlachten kannte. Er wollte verstehen, wie Gesellschaften sich wirklich verändern. Und er wollte, dass diese Erkenntnis politisch wirksam wird.

Denn wenn der Blick nur auf die Ereignisebene fällt, auf die täglichen Schlagzeilen, die Koalitionsverhandlungen, die Börsenberichte, dann geraten die tieferliegenden Dynamiken aus dem Blick, die Handlungsspielräume prägen. Dann entstehen Reaktionen auf Symptome, statt Ursachen zu verstehen. Politische Zyklen dauern vier Jahre, Infrastrukturprojekte fünfzig, Klimaveränderungen Jahrhunderte. Diese Zeitrhythmen sind nicht synchronisiert, und genau daraus entstehen viele Probleme.

Gleichzeitig droht Gefahr, wenn der Blick nur auf die lange Dauer fällt. Dann erscheinen Strukturen als unveränderlich, als Naturgesetze statt als historisch gewordene Konfigurationen. Dann droht jener Determinismus, vor dem der Soziologe Georges Gurvitch warnte: die erbarmungslosen Reden vom Rad der Geschichte, das angeblich nur in eine Richtung rollen kann.

Barcelona zeigt etwas anderes. Die Stadt liegt immer noch an derselben Stelle, zwischen Bergen und Meer. Aber was diese Lage bedeutet, hat sich radikal gewandelt. Im 13. Jahrhundert machte sie Barcelona zu einer Handels-Supermacht. Im 16. Jahrhundert zur Peripherie. Im 19. Jahrhundert zum Industriestandort. Im 21. Jahrhundert zur Tourismus-Metropole, die unter ihrem eigenen Erfolg ächzt. Die geographische Konstante bleibt, ihre soziale Bedeutung transformiert sich.

Das heißt: Auch tiefe Strukturen sind gestaltbar. Aber auf anderen Zeitskalen, mit anderen Mitteln, nach anderen Logiken als das tagespolitische Geschäft. Die Frage ist nicht ob Gestaltung möglich ist, sondern wie und auf welcher Zeitebene.

Pfade, Brüche und Möglichkeitsräume

In meiner eigenen Arbeit zur Zukunftsforschung bin ich immer wieder auf ein ähnliches Problem gestoßen: die Spannung zwischen Determiniertheit und Gestaltbarkeit. Einerseits existieren Pfadabhängigkeiten. Frühere Entscheidungen schränken spätere Optionen ein. Infrastrukturen, Institutionen, Gewohnheiten stabilisieren sich und erzeugen ihren eigenen Sog. Das ist die Lektion der Strukturgeschichte.

Andererseits gibt es Bruchstellen, Momente, in denen vermeintlich festgefügte Konfigurationen aufbrechen. Revolutionäre Situationen, technologische Durchbrüche, Naturkatastrophen. Der Soziologe Georges Gurvitch sprach von der explosiven Zeit des kreativen Schaffens, in der Vergangenheit und Gegenwart sich auflösen in der Erschaffung einer transzendenten Zukunft.

Barcelonas Olympiade 1992 war so ein Moment. Die Stadt hatte jahrzehntelang dem Meer den Rücken gekehrt. Hafenanlagen, Industriebrachen, Bahngleise trennten die Stadt vom Mittelmeer. Innerhalb weniger Jahre wurde diese Konfiguration aufgebrochen. Strände entstanden, Promenaden, das olympische Dorf. Es war keine graduelle Entwicklung, sondern ein bewusster Bruch. Ermöglicht durch ein Ereignis (die Olympiade), gestützt auf mittelfristige Konjunkturen (Deindustrialisierung, aufkommender Tourismus), aber durchaus nicht vorherbestimmt durch die lange Dauer.

Solche Brüche sind nicht beliebig. Die geographische Lage erlaubte diese Transformation, eine Binnenstadt hätte sie nicht vollziehen können. Die katalanische Identität, die über Jahrhunderte gewachsen war, motivierte sie: Barcelona wollte sich als moderne, europäische, vom Madrider Zentralismus distinkte Stadt präsentieren. Aber innerhalb dieser Rahmenbedingungen waren unterschiedliche Pfade denkbar. Die realisierte Transformation war eine Möglichkeit unter mehreren.

Beschleunigung und ihre Grenzen

Heute leben viele in einer Zeit, die der Soziologe Hartmut Rosa als Akzelerationszirkel beschrieben hat. Technische Beschleunigung (schnellere Computer, Kommunikation, Transport) führt zu beschleunigtem sozialem Wandel (instabilere Jobs, flüchtigere Beziehungen, häufigere Umbrüche), was wiederum das Lebenstempo erhöht (mehr Ereignisse pro Zeiteinheit, Verdichtung der Erfahrung). Dieser Zirkel verstärkt sich selbst: Beschleunigung erzeugt Zeitknappheit, die nach mehr Beschleunigung ruft.

In dieser Logik scheint die Ereigniszeit dominant zu werden. Alles wird kurzfristig, flexibel, anpassbar. Disruption wird zum Fetisch, Agilität zur Überlebensstrategie. Die Strukturen der mittleren Dauer geraten aus dem Blick oder erscheinen als Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Die lange Dauer verschwindet ganz.

Aber das ist eine Illusion. Denn auch in der beschleunigten Moderne existieren diese tieferliegenden Zeitschichten. Klimawandel ist ein Prozess der langen Dauer, gemessen in Jahrhunderten, auch wenn seine Auswirkungen beschleunigt sichtbar werden. Infrastrukturen (Verkehrsnetze, Energiesysteme, Gebäude) überdauern Jahrzehnte und prägen die Möglichkeiten der Gegenwart. Mentale Strukturen, kollektive Gewohnheiten, institutionelle Trägheit wirken fort, auch wenn an der Oberfläche permanente Umwälzung herrscht.

Barcelona zeigt das konkret. Die Stadt vermarktet sich als innovative, smarte, kreative Metropole. Gleichzeitig kämpft sie mit Problemen, die aus der langen Dauer erwachsen: begrenzter Raum zwischen Meer und Gebirge, sommerliche Hitze, Wasserknappheit. Die mittlere Dauer zeigt sich in der Gentrifizierung traditioneller Viertel, in Protesten gegen den Massentourismus, in Konflikten über bezahlbaren Wohnraum. Strukturprobleme, die sich nicht durch kurzfristige Interventionen lösen lassen.

Die Herausforderung besteht darin, die verschiedenen Zeitebenen wieder zusammenzudenken. Nicht entweder Ereignis oder Struktur, nicht entweder Gestaltung oder Determinismus, sondern die Dialektik zwischen ihnen. Welche langfristigen Pfade werden durch heutige Entscheidungen gelegt? Welche strukturellen Zwänge müssen verstanden werden, um überhaupt handlungsfähig zu sein? Wo liegen Bruchstellen, an denen sich tieferliegende Konfigurationen verschieben lassen?

Was das konkret bedeutet

Nehmen wir die Klimakrise. Auf der Ereignisebene entstehen einzelne Katastrophen: Hitzewellen, Überschwemmungen, Stürme. Die Politik reagiert mit kurzfristigen Maßnahmen, Wiederaufbauprogrammen, Anpassungsstrategien. Das ist notwendig, aber unzureichend.

Auf der mittleren Ebene der Strukturen müsste eine Transformation stattfinden: andere Energiesysteme, andere Mobilitätsformen, andere Konsummuster. Das dauert Jahrzehnte und erfordert koordinierte Anstrengung. Hier zeigen sich bislang weitgehend Scheitern, weil politische Zyklen zu kurz sind, weil Partikularinteressen sich durchsetzen, weil die nötigen Investitionen zu weit in der Zukunft liegen.

Auf der Ebene der langen Dauer aber geht es um mehr: um geologische Prozesse, die angestoßen wurden und die sich über Jahrhunderte erstrecken werden. CO₂ bleibt hundert Jahre in der Atmosphäre. Gletscher, die jetzt schmelzen, brauchen Jahrtausende, um wieder zu wachsen, wenn überhaupt. Hier zeigt sich, dass die Menschheit zur geologischen Akteurin geworden ist, dass Denken in Zeiträumen nötig wird, die weit über unmittelbare Erfahrung hinausgehen.

Braudels Ansatz lehrt: Alle drei Ebenen müssen im Blick bleiben. Auf Ereignisse zu reagieren, aber nicht nur reaktiv. Strukturen zu transformieren, aber ohne zu glauben, das ginge von heute auf morgen. Und die lange Dauer zu berücksichtigen, jene Prozesse, die sich über Generationen erstrecken und Verantwortung gegenüber Menschen einfordern, die niemand von uns je kennenlernen wird.

Kontingenz statt Alternativlosigkeit

Der vielleicht wichtigste Beitrag von Braudels Denken liegt in der Einsicht: Was gegenwärtig existiert, ist historisch geworden und hätte anders werden können. Die Strukturen, die uns umgeben und manchmal zu erdrücken scheinen, sind nicht natürlich. Sie sind Ergebnisse vergangener Konflikte, Entscheidungen, Zufälle. Sie können sich wieder auflösen.

Barcelona war nicht immer eine Touristenstadt. Diese Identität ist keine zwangsläufige Folge der Geographie oder der Geschichte, sondern Resultat von Entscheidungen der letzten Jahrzehnte, die wiederum auf Strukturen aufbauten (Deindustrialisierung, europäische Integration, Billigflüge), die ihrerseits kontingent waren. Andere Pfade wären denkbar gewesen: eine Stadt, die stärker auf Industrie oder Forschung oder Kultur setzt. Jetzt, da der Tourismussektor dominiert, ist der Handlungsspielraum enger geworden, aber nicht geschlossen.

Diese Perspektive ist politisch radikal. Denn sie erlaubt es, vermeintliche Sachzwänge als historische Konstruktionen zu enttarnen. There is no alternative: diesen Satz kann man nur aufrechterhalten, wenn die lange Dauer vergessen wird. Wenn nicht gesehen wird, wie oft sich Konstellationen verschoben haben, wie viele vermeintliche Notwendigkeiten sich als vorübergehend erwiesen, wie viele Alternativen existierten und wieder verschwanden.

Gleichzeitig bewahrt der Blick auf die lange Dauer vor naivem Voluntarismus. Nicht alles ist jederzeit möglich. Strukturen wirken fort, auch wenn sie nicht wahrgenommen werden. Handlungsspielräume sind real begrenzt, aber diese Grenzen sind verschiebbar, auf längere Sicht, mit klugem Verständnis dafür, wo Ansatzpunkte liegen.

Zwischen Geduld und Ungeduld

Es gibt eine Spannung in Braudels Werk, die mir produktiv erscheint. Einerseits fordert er Geduld: das lange Hinsehen, das tiefe Graben, das Aushalten von Komplexität. Geschichte wird nicht auf Knopfdruck gemacht. Strukturen transformieren sich langsam. Wer nur auf schnelle Erfolge aus ist, wird scheitern oder Oberflächeneffekte produzieren.

Andererseits schrieb Braudel für politisch engagierte Zeitgenoss*innen. Seine Arbeit sollte Orientierung geben, sollte helfen, die Gegenwart zu verstehen und zu verändern. Die lange Dauer war kein Rückzug aus der Politik, sondern ein Werkzeug für bessere Politik. Eine Politik, die nicht nur reagiert, sondern antizipiert. Die nicht nur verwaltet, sondern gestaltet. Die nicht den Illusionen der Alternativlosigkeit erliegt.

In Barcelona lässt sich das besichtigen. Die Stadt steht heute vor der Frage, wie sie mit ihrem Erfolg umgeht. Der Tourismus, der ihr Wohlstand brachte, bedroht ihre Lebensqualität. Wohnungen werden zu Ferienwohnungen umfunktioniert, Viertel verlieren ihre ansässige Bevölkerung, die Infrastruktur ist überlastet. Die Stadt reagiert: mit Obergrenzen für Kreuzfahrtschiffe, mit Regulierung von Airbnb, mit Investitionen in öffentlichen Nahverkehr.

Das sind Maßnahmen auf der Ereignisebene, sinnvoll und notwendig. Aber sie greifen nicht tief genug. Die mittlere Struktur, eine Ökonomie, die vom Tourismus abhängt, bleibt unangetastet. Eine echte Transformation müsste hier ansetzen: Welche anderen ökonomischen Grundlagen könnten entwickelt werden? Welche Institutionen, Netzwerke, Kompetenzen bräuchte es? Das wäre eine Arbeit von Jahrzehnten.

Und noch tiefer: Die geographische Lage, die begrenzte Fläche, das mediterrane Klima, diese Faktoren der langen Dauer bleiben. Aber ihre Bedeutung könnte sich verschieben. Vielleicht wird Barcelona irgendwann nicht mehr als sonnenverwöhntes Urlaubsziel vermarktet, sondern als Labor für mediterrane Stadtentwicklung im Klimawandel. Als Ort, an dem erprobt wird, wie dichte urbane Räume mit Hitze, Wassermangel, steigendem Meeresspiegel umgehen. Die lange Dauer nicht als Schicksal, sondern als Herausforderung, die kreative Antworten provoziert.

Was sich von Barcelona lernen lässt

Die Stadt zwischen Meer und Bergen lehrt: Zeit ist nicht einfach. Sie besteht nicht aus einer einzigen, gleichförmigen Dauer, in der sich Ereignis an Ereignis reiht. Sie ist geschichtet, rhythmisiert, vielfältig. Verschiedene Prozesse laufen auf verschiedenen Zeitskalen ab. Manche sind sichtbar, weil sie sich in einer Lebensspanne vollziehen. Andere bleiben unsichtbar, weil sie zu langsam sind oder weil nicht gelernt wurde hinzuschauen.

Braudels longue durée ist ein Angebot: diese verschiedenen Zeiten wieder zusammenzudenken. Zu verstehen, wie sie sich durchdringen, wie Ereignisse auf Strukturen treffen, wie Strukturen in die lange Dauer eingebettet sind. Nicht um fatalistisch zu werden, sondern um klüger zu handeln. Um zu erkennen, wo Ansatzpunkte für Veränderung liegen. Um realistische Zeiträume für Transformation zu entwickeln. Um nicht permanent zwischen hektischem Aktionismus und resignierter Ohnmacht zu oszillieren.

Barcelona ist heute eine Stadt, die mit dieser Aufgabe ringt. Sie muss kurzfristige Probleme lösen (Verkehrschaos, Wohnungsnot), mittelfristige Strukturen transformieren (Wirtschaftsmodell, soziale Kohäsion) und langfristige Herausforderungen angehen (Klimaanpassung, begrenzte Ressourcen). Das gelingt mal besser, mal schlechter. Aber allein der Versuch, diese verschiedenen Zeitebenen bewusst zu adressieren, ist lehrreich.

Denn letztlich stehen alle vor ähnlichen Herausforderungen. Als Individuen, die planen müssen zwischen Karriereentscheidungen, Familienplanung und Altersvorsorge. Als Organisationen, die Quartalsergebnisse mit strategischer Entwicklung und kulturellem Wandel in Einklang bringen müssen. Als Gesellschaften, die Wahlzyklen mit Infrastrukturplanung und generationenübergreifender Gerechtigkeit zusammenbringen müssen.

Braudels Erbe ist kein fertiges Rezept. Es ist eine Sensibilität: für die Vielschichtigkeit der Zeit, für das Zusammenspiel von Ereignis und Struktur, für die Gleichzeitigkeit von Determiniertheit und Offenheit. Eine Sensibilität, die es erlaubt, sowohl geduldig als auch ungeduldig zu sein. Geduldig gegenüber der Trägheit der Strukturen. Ungeduldig gegenüber denen, die diese Trägheit als Ausrede benutzen, um nichts zu verändern.

Wenn du das nächste Mal durch eine Stadt gehst, durch Barcelona oder wo auch immer, dann schau genau hin. Welche Zeiten überlagern sich hier? Was ist jahrhundertealt, was jahrzehntealt, was von gestern? Welche Strukturen ermöglichen das gegenwärtige Leben, welche behindern es? Wo könnten Bruchstellen liegen, an denen sich Pfade verschieben ließen?

Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. Sie ist präsent in jeder Straße, jedem Gebäude, jeder Institution. Und die Zukunft ist nicht festgelegt. Sie entsteht im Zusammenspiel von dem, was wurde, dem, was ist, und dem, was daraus gemacht wird. Zwischen Jahrhunderten und Augenblicken.

Blogadmin, kritischer Zukunftsforscher und Realutopist. Mehr über den Blogansatz unter dem Menüpunkt Philosophie.

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