Perspektivität statt Wahrheitsansprüche: Über innere Arbeit und strukturelle Gewalt

Dieser Text ist eine Co-Produktion von Jonas Drechsel und Claude. Die Recherche, Strukturierung und argumentative Ausarbeitung entstanden im Dialog zwischen menschlicher Zukunftsforschungs-Expertise und KI-gestützter Textproduktion.

Es gibt zwei Arten, das menschliche Leiden zu ignorieren. Die eine macht alles zum individuellen Problem. Die andere macht alles zur strukturellen Frage. Beide haben ein Empathieproblem – nur von verschiedenen Seiten.

Die liberale Mitte deutet materielle Zwänge häufig als Mindset-Probleme. Progressive Analysen interpretieren individuelle Heilungssuche oft genug als falsches Bewusstsein. Die einen psychologisieren strukturelle Gewalt. Die anderen strukturalisieren individuelles Leiden. Beide neigen zur Universalisierung ihrer Analyse. In beiden Lagern werden andere Erfahrungen dann für irrelevant erklärt. Die Überzeugung, die Welt verstanden zu haben, taucht hier wie dort auf.

Das zeigt sich besonders deutlich in der Debatte um innere Arbeit – Therapie, Körperarbeit, emotionale Prozesse. Für die einen ist sie der Schlüssel zur Veränderung, Eigenverantwortung, persönliches Wachstum. Für die anderen ist sie neoliberale Selbstoptimierung, Privatisierung gesellschaftlicher Probleme, Stabilisierung bestehender Verhältnisse. Beide Positionen haben recht. Beide liegen falsch. Die Frage ist komplexer.

Die Notwendigkeit innerer Arbeit

Menschen leiden unter ihren Prägungen, Traumata, unbewussten Mustern. Wer in destruktiven Beziehungen feststeckt, weil frühe Bindungserfahrungen die Wahrnehmung verzerren, profitiert von therapeutischer Arbeit. Wer unter chronischer Anspannung leidet, kann durch Körperarbeit Zugang zu verschütteten Ressourcen finden. Das sind reale Leidenszustände, die sich durch innere Prozesse verändern lassen – manchmal dramatisch.

Die Neurowissenschaften zeigen das eindrücklich: Bessel van der Kolk hat in jahrzehntelanger Forschung dokumentiert, wie Trauma sich körperlich einschreibt. Traumatische Erfahrungen verändern das autonome Nervensystem, die Stressregulation, die Art, wie der Körper auf Bedrohung reagiert. Das ist messbare Physiologie. Stephen Porges‘ Polyvagaltheorie beschreibt, wie das Nervensystem auf soziale Signale reagiert: Fühle ich mich sicher und gesehen, oder bedroht und ignoriert? Chronische Erfahrung von Bedrohung hält das System in Alarmbereitschaft – mit allen physiologischen Folgen.

Die Bindungsforschung ergänzt das Bild: Sichere Bindung entsteht durch verlässliche, wertschätzende Beziehungen in der Kindheit. Unsichere Bindungsmuster – vermeidend, ambivalent, desorganisiert – entstehen häufig aus mangelnder Sicherheit in frühen Jahren. Diese Muster haben messbare Auswirkungen auf Beziehungsfähigkeit, Stressregulation, psychische Gesundheit. Wer diese Muster versteht und bearbeitet, gewinnt Handlungsfähigkeit.

Innere Arbeit ist für viele Menschen der einzige verfügbare Raum, in dem jemand ihnen Monate am Stück zuhört. Der einzige Ort, an dem ihre Erfahrung respektiert wird, ohne Relativierung, ohne Funktionalisierung, ohne Instrumentalisierung für größere politische Ziele.

Das erste Empathieproblem: Die liberale Individualisierung

Aber genau hier setzt das erste Empathieproblem ein. Die liberale Mitte hat aus dieser Erkenntnis weitgehend eine Industrie gemacht. Wellness, Coaching, Selbstoptimierung, persönliches Wachstum. Die Idee: Wenn du nur richtig an dir arbeitest, kannst du alles erreichen. Armut? Ein Mindset-Problem. Burnout? Fehlende Selbstfürsorge. Diskriminierung? Mangelnde Resilienz.

Diese Perspektive kommt aus einer privilegierten Position. Wer genug Geld hat, um sich Therapie, Yoga-Retreats, Coaching zu leisten, kann tatsächlich die Erfahrung machen: Innere Arbeit verändert etwas. Wer in sicheren ökonomischen Verhältnissen lebt, kann Existenzängste als irrationale Gedankenmuster interpretieren. Wer strukturell vor Diskriminierung geschützt ist, kann Stress als individuelles Regulationsproblem verstehen.

Diese Perspektive funktioniert für Menschen mit bestimmten Ressourcen. Eva Illouz hat in „Gefühle in Zeiten des Kapitalismus“ gezeigt, wie emotionale Selbstoptimierung zur ökonomischen Strategie wird. Unternehmen bieten „Wertschätzung“, „Sinnhaftigkeit“, „Purpose“ statt Lohn und Mitbestimmung. Der Applaus für Pflegekräfte während Corona: symbolische Anerkennung als Ersatz für materielle Verbesserungen. „Passion“ legitimiert niedrige Löhne in Care-, Kultur- und Bildungsberufen: „Du machst das doch aus Liebe zur Sache, da geht es nicht ums Geld.“

Die liberale Mitte sieht individuelle Heilungsprozesse. Strukturelle Realitäten bleiben häufig außerhalb ihres Blickfelds. Ihre Lösungen setzen Privilegien voraus, die nur manche haben. Aus dieser Position heraus bleibt die krankmachende Materialisierung der Welt weitgehend unangetastet, in der alles zur Ware wird: Gesundheit, Beziehungen, Emotionen, Heilung selbst.

Die materiellen Grenzen

Denn innere Arbeit findet in einem materiellen Rahmen statt, der ihre Wirksamkeit begrenzt. Die ökonomische Dimension zeigt sich so: Du kannst noch so viel an deiner Beziehung zu Geld arbeiten, an Scarcity Mindset, an Glaubenssätzen über Fülle – wenn du in prekären Verhältnissen lebst, bleibt die Existenzangst rational begründet. Die ACE-Studie von Vincent Felitti und Robert Anda in den 1990ern war bahnbrechend: Sie zeigte den direkten Zusammenhang zwischen frühen Belastungen und späteren Gesundheitsproblemen. Die Studie zeigt auch, dass diese „Adverse Childhood Experiences“ mit Klasse, Race, struktureller Benachteiligung korrelieren. Therapeutische Arbeit kann dann kontraproduktiv werden, wenn sie reale materielle Bedrohung in ein psychisches Problem umdeutet.

Die strukturelle Dimension wirkt anders, aber genauso massiv: Wenn du als Frau* in einer patriarchalen Struktur arbeitest, als Person of Color in einer rassistischen Organisation, als queere Person in einem heteronormativen Umfeld – dann bleibt das Problem external, egal wie viel Resilienz du aufbaust. Die Forschung zu Minoritätsstress zeigt das deutlich: LGBTQ+-Personen haben höhere Raten von Depression, Angststörungen, Suchterkrankungen – wegen chronischer Diskriminierung. Chronischer Stress durch Marginalisierung verändert Cortisol-Level, Immunfunktion, kardiovaskuläre Gesundheit. Hier zeigt sich die Grenze der inneren Arbeit: dort, wo sie anfängt, strukturelle Gewalt in individuelles Versagen umzudeuten.

Dann die zeitliche Dimension: Innere Arbeit braucht Zeit, Energie, oft Geld. Wer mehrere Jobs braucht, um über die Runden zu kommen, wer Care-Arbeit für Kinder und pflegebedürftige Eltern leistet, hat die Ressourcen für jahrelange Therapie oder wöchentliche Körperarbeits-Sessions in der Regel zu wenig. Die Forderung nach innerer Arbeit wird dann zur Klassenbarriere. Das „Weathering“ schwarzer Frauen* in den USA – frühere Alterungsprozesse, höhere Säuglingssterblichkeit, schlechtere Gesundheitsoutcomes – zeigt kumulierte Diskriminierung, die sich biologisch manifestiert.

Das zweite Empathieproblem: Die linke Strukturalisierung

Hier setzt das zweite Empathieproblem ein. Die progressive Linke sieht diese materiellen Grenzen – und zieht daraus oft den Schluss, dass innere Arbeit irrelevant oder schädlich sei. Aus dieser Perspektive wird Therapie zur Klassenbarriere erklärt, Selbstfürsorge zur neoliberalen Ideologie, jeder Heilungsprozess zum Stabilisierungsmechanismus des Systems.

Diese Perspektive kommt aus einer berechtigten Kritik. Mark Fisher hat in „Capitalist Realism“ analysiert, wie Depression unter neoliberalen Bedingungen zur Epidemie wird – als rationale Reaktion auf prekäre, sinnentleerte Arbeit. Seine These: Die Privatisierung psychischen Leidens ist selbst Teil der Struktur. Die Psychologisierung politischer Probleme verschiebt Verantwortung. Plötzlich gilt der Arbeitsmarkt als unveränderlich, während dein Mindset zur Stellschraube wird. Das Gesundheitssystem bleibt, wie es ist, während deine Selbstfürsorge zum Problem erklärt wird.

Aber auch diese Kritik kann zu weit gehen. Sie übersieht manchmal, dass für viele Menschen Therapie der einzige verfügbare Raum ist, in dem jemand ihnen drei Monate am Stück zuhört. Die Abwertung individueller Heilungsprozesse als „falsches Bewusstsein“ ignoriert reales Leiden. Wenn du jemandem erzählst, dass sein subjektives Leiden nur Ausdruck struktureller Verhältnisse ist und seine individuelle Arbeit daran „neoliberale Selbstoptimierung“, nimmst du ihm die Deutungshoheit über die eigene Erfahrung.

Die progressive Linke sieht strukturelle Analysen. Individuelle Realitäten bleiben oft genug außerhalb ihres Blickfelds. Sie übersieht, dass Menschen unter ihren Traumata leiden, unabhängig davon, ob diese Traumata strukturell verursacht sind oder anders entstanden. Aus dieser Position heraus verhindert sie in manchen Fällen, dass Menschen Zugang zu Heilung finden, die ihnen helfen würde, überhaupt erst handlungsfähig zu werden.

Perspektivität statt Wahrheitsansprüche

Die produktivsten Ansätze kommen aus Disziplinen, die beide Dimensionen ernst nehmen – das subjektive Leiden und die objektiven Verhältnisse. Aber selbst sie operieren mit spezifischen Vorannahmen und analytischen Rahmen, die transparent gemacht werden müssen.

Frantz Fanon hat in seiner psychiatrischen Arbeit in Algerien dokumentiert, dass bestimmte „psychische Störungen“ direkte Folgen kolonialer Gewalt waren. Aus seiner antikolonialen Perspektive waren das rationale Reaktionen auf irrationale Verhältnisse. Die Trennung zwischen „innerem“ Leiden und äußerer Unterdrückung war für ihn künstlich. Seine Arbeit zeigt: Kolonialismus lässt sich durch Therapie allein niemals überwinden. Aber Therapie kann Menschen helfen, mit den psychischen Folgen umzugehen, während sie gleichzeitig politisch kämpfen. Aus einer rein psychiatrischen Perspektive wären dieselben Symptome als behandlungsbedürftige Störungen kategorisiert worden. Beide Lesarten operieren mit unterschiedlichen Wertmaßstäben.

Wilhelm Reich versuchte in den 1930ern, Marx und Freud zu verbinden. Seine Konzepte der „Charakterpanzerung“ und des „Muskelpanzers“ beschreiben, wie gesellschaftliche Unterdrückung sich körperlich materialisiert. Aus marxistischer Sicht war das eine notwendige Ergänzung der Kapitalismuskritik. Aus psychoanalytischer Sicht eine Politisierung der Triebtheorie. Aus heutiger somatischer Perspektive eine frühe Erkenntnis über die Verkörperung von Trauma. Alle drei Lesarten greifen auf denselben Gegenstand zu, mit jeweils anderen Erkenntnisinteressen.

Klaus Holzkamp entwickelte mit der Kritischen Psychologie einen Ansatz, der individuelle Handlungsfähigkeit nur in gesellschaftlichen Strukturen denken kann. Sein Konzept der „restriktiven“ versus „verallgemeinerten Handlungsfähigkeit“ erklärt, warum Menschen unter bestimmten Bedingungen scheinbar irrational handeln – ihre Handlungen sind funktional im gegebenen Rahmen, auch wenn sie langfristig selbstschädigend wirken. Gemessen an individualistischen Rationalitätsstandards erscheinen sie als Fehler. Gemessen an den tatsächlich verfügbaren Handlungsoptionen als vernünftig.

Pierre Bourdieu hat mit dem Habitus-Konzept gezeigt, wie soziale Strukturen sich in Körper, Geschmack, Haltung einschreiben. Der Habitus ist verkörperte Klassenposition. Die Art, wie jemand geht, spricht, sich bewegt, trägt die Geschichte ihrer*seiner sozialen Position. Aus soziologischer Perspektive ist das reproduzierte Ungleichheit. Aus phänomenologischer Perspektive gelebte Erfahrung. Aus therapeutischer Perspektive möglicherweise einschränkende Muster, die Veränderung zulassen. Die verschiedenen Rahmen schließen sich gegenseitig ein.

Arlie Hochschild dokumentierte Emotional Labor – die Arbeit, bestimmte Gefühle zu zeigen oder zu unterdrücken. Ihre Forschung mit Flugbegleiter*innen zeigte: Emotionsarbeit verteilt sich entlang von Klassen- und Geschlechterlinien. Und sie hat Kosten. Aus feministischer Perspektive ist das geschlechtsspezifische Ausbeutung. Aus arbeitssoziologischer Perspektive unsichtbare Arbeit. Aus psychologischer Perspektive emotionale Erschöpfung. Alle drei Perspektiven beleuchten verschiedene Facetten desselben Phänomens.

Nancy Fraser hat die Debatte zwischen „Anerkennung“ und „Umverteilung“ geprägt. Ihr Argument: Identitätspolitik braucht materielle Umverteilung. Ökonomische Politik braucht Anerkennung unterschiedlicher Diskriminierungsformen. Beide Dimensionen brauchen einander. Das gilt auch für innere Arbeit und Strukturkritik. Aus redistributiver Perspektive ist Anerkennung ohne materielle Veränderung symbolische Politik. Aus anerkennungstheoretischer Perspektive ist Umverteilung ohne Respekt technokratisch. Fraser selbst argumentiert für die Verschränkung beider Perspektiven.

Die fehlende Dimension: Wertschätzung und epistemische Demut

Aber in all diesen Analysen fehlt etwas, das beide Seiten – liberale Mitte und progressive Linke – teilen: die Unfähigkeit zur epistemischen Demut. Die Überzeugung, die Welt verstanden zu haben. Die Weigerung, andere Perspektiven als gleichwertig anzuerkennen.

Axel Honneth hat drei Formen der Anerkennung unterschieden: emotionale Zuwendung, rechtliche Anerkennung, soziale Wertschätzung. Seine These: Verletzungen dieser Anerkennungsformen produzieren spezifische Pathologien – Scham, Entwürdigung, das Gefühl der Wertlosigkeit. Die Whitehall-Studien von Michael Marmot dokumentierten über Jahrzehnte britische Beamt*innen: Je niedriger die Hierarchiestufe, desto höher das Herzinfarktrisiko – innerhalb derselben Organisation, mit ähnlicher Jobsicherheit. Der Unterschied war Kontrolle, Autonomie, Wertschätzung.

Menschen in statusniedrigen Berufen haben höhere Mortalitätsraten – auch wenn Einkommen kontrolliert wird. Die fehlende Wertschätzung der Tätigkeit selbst wirkt tödlich. Therapie allein kann das niemals heilen. Lohnerhöhung allein reicht ebenfalls zu kurz. Es braucht beides: materielle Anerkennung und symbolische Wertschätzung. Aus gesundheitswissenschaftlicher Perspektive sind das messbare physiologische Effekte chronischen Stresses. Aus soziologischer Perspektive inkorporierte Ungleichheit. Aus anerkennungstheoretischer Perspektive die Gewalt symbolischer Abwertung. Jede Perspektive sieht etwas anderes am selben Gegenstand.

Aber Wertschätzung meint mehr als soziale Anerkennung. Sie meint auch epistemische Demut – die Wertschätzung anderer Realitäten und anderer Analysezugänge. Und genau hier liegt das gemeinsame Problem beider Lager.

Liberale individualisieren. Progressive strukturalisieren. Beide neigen zur Universalisierung ihrer Analyse. In beiden Lagern werden andere Perspektiven zu Epiphänomenen, Ablenkungen, falschem Bewusstsein erklärt. Das produziert intellektuelle Gewalt.

Miranda Fricker hat mit „Epistemic Injustice“ beschrieben, wie bestimmten Menschen systematisch die Fähigkeit abgesprochen wird, ihre Realität zu beschreiben. Marginalisierte Stimmen werden als „zu emotional“, „zu subjektiv“, „nicht wissenschaftlich“ disqualifiziert – während dominant positionierte Sprecher*innen als objektiv gelten. Diese epistemische Ungerechtigkeit funktioniert in beide Richtungen.

Wenn die liberale Mitte Menschen, die über strukturelle Gewalt sprechen, als „Opfermentalität“ abtut, ist das epistemische Gewalt. Wenn die progressive Linke Menschen, die über ihre Heilungserfahrungen sprechen, als „privilegierte Selbstoptimierung“ abtut, ist das ebenfalls epistemische Gewalt. In beiden Fällen wird anderen die Deutungshoheit über ihre eigene Erfahrung genommen.

Konsequenzen fehlender Empathie

Wenn Ökonom*innen Gesundheitspolitik machen, ohne Pflegekräfte oder Patient*innen einzubeziehen, scheitern Reformen häufig – weil die ökonomische Analyse unvollständig war. Wenn Psycholog*innen Interventionen entwickeln, ohne strukturelle Gewalt zu berücksichtigen, stabilisieren sie in vielen Fällen das System – aus mangelnder Empathie für Realitäten außerhalb ihrer Disziplin. Wenn politische Bewegungen nur strukturelle Analyse machen, ohne zu verstehen, wie Trauma Menschen handlungsunfähig macht, scheitern sie oft genug an ihrer eigenen Basis.

Die liberale Mitte sieht Menschen, die an strukturellen Verhältnissen verzweifeln, und fragt: „Hast du es mit Therapie versucht?“ Die progressive Linke sieht Menschen, die durch Therapie Handlungsfähigkeit gewinnen, und fragt: „Merkst du, dass du das System stabilisierst?“ Beide Fragen sind berechtigt. Beide sind auch grausam, wenn sie die jeweils andere Dimension ausblenden.

Patricia Hill Collins hat mit der Standpoint Theory argumentiert: Marginalisierte Positionen haben oft klarere Sicht auf Machtverhältnisse, weil sie deren Effekte direkt erleben. Ihre Perspektiven werden systematisch epistemisch entwertet. Das gilt für Klasse, Race, Gender. Das gilt auch für verschiedene Wissensformen: Akademisches Wissen wird höher bewertet als Erfahrungswissen. Quantitative Studien gelten als objektiver als qualitative Interviews. Strukturanalyse als wissenschaftlicher als subjektive Heilungsberichte.

Donna Haraway spricht von „situated knowledges“ – verortetes Wissen. Jede Perspektive ist partikular, körperlich verortet, historisch situiert. „View from nowhere“ existiert nirgends. Objektivität entsteht durch die Fähigkeit, multiple partiale Perspektiven zu artikulieren und in Beziehung zu setzen.

Epistemische Bescheidenheit als Ausweg

Eine weitere Metatheorie, die alle Perspektiven integriert, würde nur die nächste Stufe der Hybris darstellen. Stattdessen braucht es Bereitschaft zur epistemischen Bescheidenheit.

Nancy Cartwright nennt das „dappled world“ – eine gescheckte Welt, die sich unter kein einziges Gesetz subsumieren lässt. Verschiedene Domänen folgen verschiedenen Logiken. Manchmal sind ökonomische Faktoren entscheidend, manchmal psychologische, manchmal kulturelle. Oft interferieren sie auf Weisen, die sich vorher so niemals denken ließen.

Die Kritische Theorie hat dafür Adornos Begriff des „identifizierenden Denkens“ – der Zwang, Phänomene vollständig auf eine Ursache, ein System, eine Logik zurückzuführen. Sein Gegenbegriff war „negative Dialektik“ – ein Denken, das den Rest, das Nicht-Aufgehende, das Sperrige respektiert. Das seine eigenen Grenzen kennt.

Wertschätzung für andere Zugänge bedeutet dann: Anerkennen, dass jemand mit anderem Background, anderen Methoden, anderen Erfahrungen etwas sehen kann, was dir entgeht. Das ist Realismus.

Wendell Berry hat geschrieben: „It is ignorance that is certain. Knowledge is always a matter of doubt.“ Die dümmsten sind die, die ihre eigenen Grenzen übersehen. Das gilt für die liberale Mitte, die aus ihrer Privilegienblase heraus die Welt erklärt. Das gilt für die progressive Linke, die aus ihrer Theoriefestung heraus die Welt erklärt. Das gilt für Disziplinen. Das gilt für politische Bewegungen.

Die produktive Haltung wäre: Innere Arbeit als Ergänzung. Strukturelle Analyse als Rahmen. Verschiedene Zugänge als notwendig. Die Frage lautet: Unter welchen Bedingungen hilft was wem? Aus wessen Perspektive wird hier geurteilt? Mit welchen Wertmaßstäben wird gemessen?

Die Whitehall-Studien laufen noch immer. Die Korrelation zwischen Status und Gesundheit bleibt stabil. Menschen sterben früher in niedrigeren Klassen.

Blogadmin, kritischer Zukunftsforscher und Realutopist. Mehr über den Blogansatz unter dem Menüpunkt Philosophie.

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