Obama, der progressive Neoliberalismus und der Weg in den autoritären Populismus
Dieser Text ist eine Co-Produktion von Jonas Drechsel und Claude. Die Recherche, Strukturierung und argumentative Ausarbeitung entstanden im Dialog zwischen menschlicher Zukunftsforschungs-Expertise und KI-gestützter Textproduktion.
Die Verehrung der falschen Helden
Die deutsche liberale Öffentlichkeit verehrt Barack Obama. In Talkshows wird seine Präsidentschaft nostalgisch verklärt. Seine Memoiren werden besprochen wie Staatsphilosophie. Wenn Trump erwähnt wird, folgt reflexhaft: „Damals unter Obama…“ als Referenzpunkt einer besseren Zeit, einer vernünftigen Politik, einer Welt, die noch in Ordnung war.
Diese Verehrung teilt Obama mit Angela Merkel. Beide werden als Bollwerke liberaler Demokratie inszeniert. Beide stehen für eine Politik, die als pragmatisch, sachlich, jenseits von Ideologie gilt. Beide haben Gesellschaften hinterlassen, in denen die autoritäre Rechte massiv an Boden gewann.
Aus einer klassenanalytischen Perspektive ist das kein Zufall. Es ist das Ergebnis einer spezifischen Form von Politik, die Nancy Fraser „progressiven Neoliberalismus“ genannt hat: Eine Verbindung von kultureller Liberalität mit wirtschaftlichem Dogmatismus. Von Diversität in Führungsetagen mit Deregulierung der Finanzmärkte. Von Regenbogenfahnen bei Konzernveranstaltungen mit prekärer Beschäftigung in den Lagerhallen.
Diese Politik lässt sich unterschiedlich bewerten. Aus Sicht der kulturellen Liberalisierung brachte sie Fortschritte. Aus Perspektive materieller Umverteilung vertiefte sie Ungleichheit. Aus neoliberaler Sicht modernisierte sie überkommene Strukturen. Aus sozialdemokratischer Perspektive demontierte sie den Sozialstaat. Die Frage ist nicht, welche dieser Lesarten „richtig“ ist, sondern wie sie zusammenwirken und welche blinden Flecken sie jeweils produzieren.
Wer verstehen will, warum die Rechte heute so stark ist, muss verstehen, was unter Obama schieflief. Und warum die liberale Mitte das nicht sehen will.
Die Finanzkrise als verpasster Moment
Beginnen wir 2008. Die Finanzkrise legte offen, was vorher nur Kritiker*innen am Rand gesagt hatten: Das System funktioniert nicht. Die Deregulierung der Märkte, die Finanzialisierung der Wirtschaft, die Macht der Banken, all das war nicht nachhaltig. Es war eine Blase, und sie platzte.
Obamas Wahlkampf versprach fundamentale Veränderung. „Yes, we can“ war nicht einfach ein Slogan. Es war das Versprechen, dass Politik tatsächlich etwas ändern kann. Dass die Macht der Wall Street gebrochen werden kann. Dass eine gerechtere Wirtschaft möglich ist.
Die ersten Personalentscheidungen zeigten, wohin die Reise ging. Timothy Geithner wurde Finanzminister, vorher Chef der New Yorker Federal Reserve, tief verwoben mit den Interessen der Banken. Larry Summers wurde Wirtschaftsberater, einer der Architekten der Deregulierung unter Clinton, die zur Krise geführt hatte. Diese Männer brachten dieselbe Logik mit, die zur Krise beigetragen hatte.
Ihre Politik folgte einer simplen Logik: Die Banken müssen gerettet werden, damit sie die Wirtschaft retten können. Hunderte Milliarden Dollar flossen in die Stabilisierung des Finanzsystems. Die Frage, ob man systemrelevante Banken nicht einfach verstaatlichen sollte – in anderen Krisen durchaus üblich –, wurde nicht ernsthaft gestellt.
Während die Banken gerettet wurden, verloren etwa zehn Millionen Menschen ihre Häuser. Zwangsversteigerungen wurden nicht verhindert, sondern verwaltet. Programme zur Unterstützung von Hausbesitzer*innen waren unterfinanziert und wirkungslos. Die Botschaft war klar: Wenn du zu groß bist zum Scheitern, wirst du gerettet. Wenn du ein normaler Mensch bist, bist du auf dich gestellt.
Die Zahlen sind brutal. Das Vermögen der unteren 50 Prozent der amerikanischen Haushalte brach ein. Besonders hart traf es Schwarze und Latino-Familien, deren Vermögen überproportional in Immobilien gebunden war. Unter dem ersten Schwarzen Präsidenten vergrößerte sich die rassistische Vermögensungleichheit.
Gleichzeitig erholten sich die obersten zehn Prozent binnen weniger Jahre. Die Aktienmärkte stiegen. Die Unternehmensgewinne wuchsen. Die Vermögenskonzentration erreichte Niveaus, die seit den 1920er Jahren nicht mehr gesehen wurden.
Diese Entwicklung lässt sich unterschiedlich deuten. Aus keynesianischer Perspektive war die Bankenrettung notwendig, um einen totalen Kollaps zu verhindern. Aus neoliberaler Sicht bewies sie die Flexibilität des Systems. Aus klassenanalytischer Perspektive offenbarte sie, wessen Interessen im Zweifelsfall geschützt werden: nicht die der Hausbesitzer*innen, sondern die des Finanzkapitals.
Obama hätte die Banken zerschlagen können. Er hätte Vermögenssteuern durchsetzen können. Er hätte ein massives öffentliches Investitionsprogramm auflegen können, finanziert durch Schulden oder Steuern auf Kapital. Stattdessen wählte er den Weg, den seine Berater*innen als „realistisch“ definierten. Die Frage ist: Realistisch aus welcher Perspektive? Realistisch für wen?
Kultureller Fortschritt als Substitut
Parallel dazu: echte Fortschritte. Die Ehe für alle wurde 2015 vom Supreme Court legalisiert. Das war historisch bedeutsam. Es veränderte Leben von Millionen Menschen. Die Don’t-Ask-Don’t-Tell-Politik im Militär wurde aufgehoben. Transgender-Rechte wurden sichtbarer. Der nationale Diskurs über Rassismus gewann an Tiefe, befeuert durch Black Lives Matter nach der Tötung von Trayvon Martin und später Michael Brown.
Obama selbst sprach über strukturellen Rassismus auf eine Weise, die für einen amtierenden Präsidenten neu war. Seine Rede nach dem Massaker in Charleston 2015 wurde als Meilenstein gefeiert. Er sang „Amazing Grace“. Er benannte weiße Vorherrschaft.
Diese Momente waren nicht inszeniert. Sie waren authentisch. Und sie waren wichtig. Für Menschen, die sich zum ersten Mal in der Repräsentation sahen. Für Schwarze Kinder, die einen Präsidenten hatten, der aussah wie sie. Für queere Menschen, deren Rechte endlich anerkannt wurden.
Die Frage ist nicht, ob diese Fortschritte real waren. Sie waren es. Die Frage ist, in welchem Verhältnis sie zur ökonomischen Politik standen. Diese kulturellen Fortschritte wurden zunehmend vom ökonomischen Projekt abgekoppelt. Identitätspolitik wurde nicht als Teil eines umfassenden Projekts sozialer Gerechtigkeit verstanden, sondern als eigenständige Agenda. Repräsentation ohne Umverteilung. Anerkennung ohne materielle Verbesserung.
Aus Sicht vieler queerer Menschen, People of Color, von Feminist*innen waren das substanzielle Verbesserungen ihrer Lebenssituation. Aus gewerkschaftlicher Perspektive blieben zentrale Fragen ungeklärt: Löhne, Arbeitsrechte, soziale Sicherung. Aus marxistischer Analyse wurde Identität instrumentalisiert, um von Klassenfragen abzulenken. Aus liberaler Sicht bewies Obama, dass das System funktioniert und sich reformieren lässt.
Das hatte Konsequenzen. Progressive Politik wurde zur Domäne einer spezifischen Klasse: urbane, gebildete, kulturell liberale Menschen. In Brooklyn wurde über korrekte Pronomen diskutiert, wichtig und richtig. Aber in West Virginia kämpften Menschen um Zugang zu Gesundheitsversorgung. Beide Kämpfe sind legitim. Aber die Demokratische Partei kommunizierte zunehmend, als sei nur ersterer politisch relevant.
Fraser hat das die „Allianz des progressiven Neoliberalismus“ genannt: Finanzkapital und neue soziale Bewegungen gegen die alte Industriearbeiter*innenschaft. Silicon-Valley-CEOs, die Pride-Flaggen schwenken und gleichzeitig jede gewerkschaftliche Organisierung bekämpfen. Hollywood-Prominente, die über Feminismus sprechen und Haushaltshilfen unter Mindestlohn bezahlen. Universitäten, die Diversitätsprogramme auflegen und gleichzeitig prekär beschäftigte Lehrbeauftragte ausbeuten.
Aus Sicht der aufsteigenden urbanen Professional*innen war das kein Widerspruch. Kulturelle Liberalität und wirtschaftlicher Erfolg passten zusammen. Aus Perspektive der schrumpfenden Industriearbeiter*innenschaft sah es anders aus: Die Partei, die mal ihre Interessen vertreten hatte, sprach jetzt eine andere Sprache. Aus feministischer Perspektive war es ein Fortschritt, dass Frauen in Führungspositionen gelangten. Aus sozialistischer Perspektive blieb die Frage: Welche Frauen, und auf wessen Kosten?
Diese Widersprüche wurden nicht als Problem gesehen. Sie wurden als Beweis für Fortschritt inszeniert. Endlich hatten marginalisierte Gruppen Zugang zu Macht und Wohlstand. Dass diese Macht und dieser Wohlstand auf der Ausbeutung anderer beruhten, verschwand aus dem Blick.
Die Rhetorik der individuellen Verantwortung
Obamas Sprache ist aufschlussreich. „Yes, we can“ suggerierte kollektive Handlungsmacht. Aber seine konkrete Politik individualisierte systematisch. Bildung wurde zur persönlichen Investition, in dich selbst, in deine Zukunft, in dein Humankapital. Gesundheit wurde zur individuellen Verantwortung: Kaufe eine Versicherung oder zahle eine Strafe. Arbeitslosigkeit wurde zum Qualifikationsproblem: Lerne zu programmieren, dann findest du Arbeit.
Diese Logik ist zutiefst neoliberal. Sie verschiebt strukturelle Probleme auf die individuelle Ebene. Wenn Erfolg das Ergebnis persönlicher Anstrengung ist, ist Scheitern persönliche Schuld. Die Frage, warum bestimmte Regionen deindustrialisiert wurden, verschwindet. Die Frage, warum Gesundheitsversorgung in einem der reichsten Länder der Welt nicht universal ist, wird nicht gestellt. Die Frage, warum Gewerkschaften systematisch geschwächt wurden, taucht nicht auf.
Mark Fisher hat das „kapitalistischen Realismus“ genannt: Die Unfähigkeit, sich Alternativen zum bestehenden System vorzustellen. Unter Obama wurde dieser Realismus mit progressiver Symbolik dekoriert. Das System blieb unhinterfragt. Die Frage war nur, wer darin aufsteigen durfte.
Die Obamacare-Reform ist exemplarisch. Sie brachte Verbesserungen für Millionen Menschen, die Zugang zu Versicherungen erhielten, Vorerkrankungen konnten nicht mehr zur Ablehnung führen. Aber die Grundstruktur blieb: ein marktbasiertes System, in dem Versicherungskonzerne Profite machen. Medicare for All, ein öffentliches, universelles System, wurde nicht ernsthaft verfolgt. Die ideologischen Grenzen des Möglichen waren enger gezogen als die praktischen.
Die geografische Spaltung
Schauen wir auf die Karte der USA. Die Obama-Koalition funktionierte in Metropolen. New York, San Francisco, Chicago, Seattle. Dort, wo die Wissensökonomie florierte. Wo Tech-Unternehmen Jobs schufen für diejenigen mit den richtigen Qualifikationen. Wo kulturelle Liberalität zur Norm wurde. Wo die „creative class“ sich ansiedelte und die Mieten in die Höhe trieb.
Zwischen den Küsten lag ein anderes Land. Der Rust Belt: Pennsylvania, Ohio, Michigan, Wisconsin. Regionen, in denen Fabriken schlossen. Wo ganze Gemeinden von einer Industrie abhingen, die verschwand. Wo Opioid-Epidemien wüteten, weil Menschen keine Perspektive mehr sahen.
Diese Regionen wählten Obama 2008. Sie glaubten seinem Versprechen der Veränderung. Sie hofften, dass jemand endlich ihre Situation ernst nimmt. 2012 wählten sie ihn nochmal – die Hoffnung war noch nicht ganz gestorben. 2016 wählten sie Trump.
Die Demokratische Partei interpretierte das als kulturellen Backlash. Als Rassismus. Als Sexismus. Als Rückständigkeit. Diese Faktoren spielten eine Rolle, keine Frage. Aber sie waren nicht das Ganze. Dazwischen lag eine simple ökonomische Realität: Menschen wählten gegen eine Partei, die ihnen nichts mehr zu bieten hatte außer moralischer Überlegenheit.
Arlie Hochschild hat das in „Strangers in Their Own Land“ dokumentiert. Sie sprach mit Menschen in Louisiana, die Trump unterstützten. Diese Menschen fühlten sich nicht als Rassist*innen. Sie fühlten sich betrogen. Sie hatten die Regeln befolgt. Hatten gearbeitet. Steuern gezahlt. Und dann sahen sie, wie Banker*innen gerettet wurden, die das System ruiniert hatten. Wie Manager*innen Boni erhielten, während sie selbst entlassen wurden.
Obamas Botschaft an sie lautete im Kern: Seid nicht verbittert. Bildet euch weiter. Passt euch an die neue Wirtschaft an. Das ist keine Politik. Das ist Verhöhnung.
Trump als Negativ-Abdruck
Trump verstand diese Dynamik. Seine Politik war chaotisch, widersprüchlich, oft direkt schädlich für seine Wähler*innenbasis. Aber er verfügte über ein intuitives Gespür für die Frustration der Menschen. Er bot keine kohärenten Lösungen. Aber er bot Anerkennung.
Seine Botschaft war simpel: Das System ist korrupt. Die Eliten verachten euch. Die Politiker*innen in Washington kümmern sich nicht um euch. Und ich – ich bin nicht Teil davon. Ich sage, was ihr denkt. Ich kämpfe für euch.
Das war eine Lüge. Trump war Immobilienmilliardär, der sein Leben lang Arbeiter*innen betrogen hatte. Seine Administration bestand aus Goldman-Sachs-Manager*innen und Heritage-Foundation-Ideolog*innen. Seine Steuerpolitik begünstigte massiv die Reichen. Seine Gesundheitspolitik hätte Millionen die Versicherung gekostet.
Aber seine performative Politik funktionierte. Vulgär statt kultiviert. Anti-intellektuell statt professoral. Offen feindselig gegenüber „den Eliten“ statt versöhnlich. Trump inszenierte sich als Gegenbild zu Obama – und damit als Verbündeten derer, die sich von Obamas Koalition ausgeschlossen fühlten.
Das Tragische: Diese Inszenierung brauchte Obama als Kontrastfolie. Der progressive Neoliberalismus, diese spezifische Verbindung von kultureller Liberalität und wirtschaftlichem Dogmatismus, schuf einen Resonanzraum für autoritären Populismus. Das eine ermöglichte das andere.
Obama repräsentierte Kompetenz, Bildung, kosmopolitische Weltsicht. Eigenschaften, die in der postindustriellen Ökonomie belohnt werden. Trump repräsentierte deren Gegenteil – und wurde damit zum Symbol für die, die von dieser Ökonomie ausgeschlossen sind.
Die Transformation der Identitätspolitik
Das Problem ist nicht Identitätspolitik an sich. Der Begriff geht zurück auf das Combahee River Collective, eine Gruppe Schwarzer Feminist*innen, die in den 1970er Jahren die Verschränkung von Rassismus, Sexismus und Kapitalismus analysierten. Identitätspolitik war ursprünglich intersektional gedacht: Es ging darum zu verstehen, wie verschiedene Formen von Unterdrückung zusammenwirken.
Unter Obama wurde daraus etwas anderes: Repräsentationspolitik. Mehr Frauen in Vorständen. Mehr People of Color in Führungspositionen. Mehr LGBTQ+-Charaktere in Fernsehserien. Diversität als Wert an sich, losgelöst von der Frage nach Macht und Umverteilung.
Das Ergebnis war paradox. Für manche, für diejenigen mit den richtigen Qualifikationen, dem richtigen kulturellen Kapital, brachte das echte Fortschritte. Karrieren wurden möglich, die vorher verschlossen waren. Aber für die Mehrheit der marginalisierten Gruppen änderte sich strukturell wenig. Eine Schwarze CEO verändert die systematische Diskriminierung im Arbeitsmarkt nicht grundlegend. Eine lesbische Politikerin verändert die prekären Lebensverhältnisse queerer Jugendlicher nicht automatisch.
Gleichzeitig wuchs die Frustration bei denjenigen, deren Probleme nicht mehr als politisch relevant galten. Wenn progressive Politik vor allem über Pronomen spricht, aber nicht über Löhne – was bedeutet das für eine Krankenschwester in Alabama, die drei Jobs braucht, um durchzukommen?
Der Begriff „white privilege“ beschreibt reale Strukturen. Aber wenn eine weiße Krankenschwester hört, sie sei privilegiert, während ihr Lohn seit Jahrzehnten stagniert, ihre Gesundheitsversorgung zusammenbricht und sie keine Perspektive für ihre Kinder sieht, dann fühlt sich das nicht wie Analyse an. Dann fühlt sich das wie Hohn an.
Die Rechte nutzte das brutal effektiv. Sie verwandelte progressive Sprache in eine Waffe gegen Progressive. „Identitätspolitik“ wurde zum Schimpfwort. Sie erkannte eine Spaltung, die sich vertiefen ließ, und nutzte sie gezielt.
Die deutsche Parallele
Die Verehrung Obamas in Deutschland ist aufschlussreich. Sie folgt der gleichen Logik wie die Verehrung Merkels. Beide stehen für eine Politik, die Stabilität verspricht, ohne Grundsätzliches zu verändern. Beide verkörpern, was die liberale Mitte als „vernünftige Politik“ begreift, sachlich, moderat, kompromissbereit.
Merkels Deutschland folgte einem ähnlichen Muster wie Obamas Amerika. Hartz IV blieb intakt, ein System, das Erwerbslose diszipliniert statt unterstützt. Die Schuldenbremse wurde verfassungsrechtlich verankert und verhinderte Investitionen in Infrastruktur, Bildung, sozialen Wohnungsbau. Während Unternehmensgewinne explodierten, stagnierten Reallöhne jahrelang.
Gleichzeitig: kulturelle Öffnung. Die „Willkommenskultur“ 2015. Die Ehe für alle. Eine Rhetorik der Weltoffenheit. Deutschland als liberale Führungsmacht in Europa. Die liberale Mitte feierte das. Endlich eine Politik jenseits von Ideologie. Endlich Pragmatismus.
Merkel lässt sich nicht eindimensional einordnen. Aus Sicht der CDU-Basis war sie zu liberal, öffnete die Partei zu weit. Aus sozialdemokratischer Perspektive zementierte sie neoliberale Reformen und blockierte progressive Alternativen. Aus grüner Sicht war sie in der Klimapolitik zu zögerlich, in der Energiewende widersprüchlich. Aus neoliberaler Perspektive stabilisierte sie Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit durch Lohnzurückhaltung und Exportorientierung. Aus europäischer Sicht verhängte sie Austerität über Südeuropa und vertiefte die Krise.
Merkel als „progressiv“ zu bezeichnen, würde eine spezifische Perspektive universalisieren: die der urbanen, kulturell liberalen Mitte. Merkel als „konservativ“ zu bezeichnen, würde ihre kulturpolitischen Öffnungen unsichtbar machen. Produktiver ist: Merkel verkörperte einen Widerspruch. Kulturelle Öffnung bei gleichzeitiger ökonomischer Schließung. Humanitäre Rhetorik 2015 bei gleichzeitiger Austeritätspolitik. Dieser Widerspruch war kein Zufall. Er war Programm.
Die AfD wuchs in diesem Kontext. In Regionen, die von Deindustrialisierung betroffen waren. In Kleinstädten, deren Infrastruktur verfiel. Unter Menschen, die sahen, wie Geflüchtete untergebracht wurden, während für sie selbst kein bezahlbarer Wohnraum existierte.
Das Problem waren nicht die Geflüchteten. Das Problem war, dass jahrzehntelang nicht in sozialen Wohnungsbau investiert wurde. Dass öffentliche Dienstleistungen abgebaut wurden. Dass ganze Regionen als „abgehängt“ galten und dann sich selbst überlassen wurden.
Die Rechte bot eine Erklärung: Die da oben kümmern sich um alle anderen, nur nicht um euch. Das war faktisch falsch – die da oben kümmerten sich vor allem um Konzerninteressen. Aber es fühlte sich wahr an. Weil die materielle Erfahrung stimmte, auch wenn die Ursachenanalyse nicht stimmte.
Die Klassenvergessenheit der liberalen Mitte
Pierre Bourdieu hat vom „Rassismus der Intelligenz“ gesprochen: Die gebildeten Schichten legitimieren ihre Privilegien durch Verweis auf Leistung, Bildung, Weltläufigkeit. Wer nicht mitkommt, hat sich nicht genug angestrengt. Wer abgehängt ist, muss sich weiterbilden.
Diese Haltung durchzieht die liberale Öffentlichkeit. Der Begriff „Globalisierungsverlierer“ ist verräterisch. Als sei Globalisierung ein Naturgesetz und nicht das Ergebnis politischer Entscheidungen. Als sei „verlieren“ individuelles Versagen und nicht strukturell produziert.
Die Verehrung für Obama und Merkel basiert auf einer spezifischen Klassenposition. Journalist*innen, Akademiker*innen, höhere Angestellte. Menschen, deren Position in der globalisierten Ökonomie relativ gesichert ist. Deren Bildungskapital sich auszahlt. Die von Diversität profitieren, weil sie in Feldern arbeiten, wo kulturelles Kapital zählt.
Für diese Gruppe funktionierte die Obama-Merkel-Politik auf mehreren Ebenen. Sie bekamen kulturelle Liberalität, wichtig für ihr Selbstbild als progressive, weltoffene Menschen. Und sie bekamen ökonomische Stabilität, ihre Privilegien wurden nicht angetastet. Aus ihrer Perspektive war das kein Widerspruch, sondern gelungene Modernisierung. Aus Sicht der Arbeiter*innenklasse sah es anders aus: Kulturelle Anerkennung für andere, materielle Verschlechterung für sich selbst.
Die Kehrseite: Für die untere Hälfte der Einkommensverteilung bedeutete dieselbe Politik Stagnation, Prekarisierung, schwindende Perspektiven. Aber diese Menschen waren nicht mehr Teil der Koalition. Sie waren bestenfalls Objekte von Sozialpolitik. Nicht Subjekte einer politischen Bewegung.
Wolfgang Streeck hat analysiert, wie die Sozialdemokratie europaweit ihre Klassenbasis verlor, indem sie sich als „Partei der Mitte“ neu erfand. Das bedeutete: Nicht mehr die Interessen der Arbeiter*innenklasse vertreten, sondern die eines diffusen „Bürgertums“. Nicht mehr Umverteilung fordern, sondern Wachstum. Nicht mehr Konflikte benennen, sondern sie moderieren.
Obama und Merkel sind Meister*innen dieser Politik. Sie sprechen ruhig. Sie wirken reflektiert. Sie vermeiden Extreme. Genau das macht sie für die bürgerliche Mitte attraktiv. Denn diese Mitte profitiert vom Status quo. Sie will keine Umwälzung. Sie will Stabilität.
Die Unfähigkeit zur Selbstkritik
Was die liberale Mitte nicht wahrhaben will: Ihre Politik trug wesentlich zu den Bedingungen für den Rechtsruck bei. Es gibt lange Traditionen autoritären Denkens, rassistischer Ressentiments, nationalistischer Mythen. Aber diese Traditionen allein erklären nicht, warum sie jetzt wieder massiv mobilisierbar sind.
Die Mobilisierung braucht einen Resonanzboden. Dieser Resonanzboden ist materielle Unsicherheit, gepaart mit kultureller Entwertung. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Dass die eigene Arbeit nichts mehr wert ist. Dass die eigene Lebenswelt als rückständig gilt.
Diese Gefühle entsprechen realen Prozessen. Die Deindustrialisierung ist real. Die Prekarisierung ist real. Die Entwertung bestimmter Qualifikationen ist real. Die angebotenen Erklärungen, Migrant*innen, Eliten, Brüssel, greifen zu kurz und verdecken die eigentlichen Ursachen.
Aber die liberale Mitte bietet keine alternative Erklärung. Sie sagt: Eigentlich geht es euch gut. Schaut auf die Statistiken. Das BIP wächst. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Ihr seid nur zu pessimistisch. Das ist zynisch. Denn Durchschnitte sagen nichts über Verteilung. BIP-Wachstum sagt nichts über Lebensqualität. Sinkende Arbeitslosigkeit sagt nichts über prekäre Beschäftigung.
Aus volkswirtschaftlicher Perspektive mögen die Zahlen stimmen. Aus soziologischer Perspektive ist die Lage für große Teile der Bevölkerung prekär. Aus neoliberaler Sicht ist individuelle Anpassung die Lösung. Aus sozialdemokratischer Sicht wäre kollektive Absicherung notwendig. Diese unterschiedlichen Bewertungsmaßstäbe offen zu legen statt eine als objektiv zu privilegieren, wäre analytisch redlicher.
Merkel reagierte auf die AfD mit „besorgte Bürger*innen“-Rhetorik. Mit dem Versuch, deren Themen zu übernehmen. Mit Grenzverschärfungen, Asylrechtsverschärfungen, restriktiverer Migrationspolitik. Das führte zu einer Legitimierung der rechten Agenda, während die Wähler*innenbasis nicht zurückgewonnen wurde.
Die strukturelle Gewalt des Neoliberalismus
Obamas Politik war nicht brutal im offensichtlichen Sinn. Es gab keine Massenentlassungen im öffentlichen Dienst wie unter Thatcher. Keine Gewalt gegen Streikende wie unter Reagan. Stattdessen: sanfter Zwang. Marktmechanismen. Anreize. Eigenverantwortung.
Aber die Effekte waren brutal. Familien verloren ihre Häuser. Menschen verloren Krankenversicherungen. Universitätsabsolvent*innen begannen ihre Karrieren mit sechsstelligen Schulden. Die Opioid-Krise eskalierte, Menschen griffen zu Schmerzmitteln, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sahen.
Diese Brutalität war unsichtbar in dem Sinne, dass sie sich als individuelle Schicksale darstellte. Nicht als politisches Projekt. Die Zwangsversteigerung war ein Einzelfall. Die Verschuldung war persönliche Entscheidung. Die Sucht war individuelle Schwäche.
Genau diese Unsichtbarkeit macht neoliberale Politik so wirkmächtig. Sie produziert Leid, ohne als dessen Ursache erkennbar zu sein. Wenn Progressive diese Strukturen nicht benennen und stattdessen über Repräsentation und Symbolik sprechen, ist das Feld frei für rechte Erklärungen.
Die Alternative, die es gab
Das Tragische: Es gab Alternativen. Bernie Sanders zeigte 2016 und 2020, dass eine andere demokratische Politik möglich ist. Mit massiver Basis-Unterstützung. Mit Millionen kleiner Spenden statt Großdonor*innen. Mit klarer Klassenorientierung: Medicare for All, öffentliche Universitäten ohne Studiengebühren, Vermögenssteuer, Green New Deal.
Sanders mobilisierte genau die Menschen, die später zu Trump überliefen oder zu Hause blieben. Junge Menschen. Arbeiter*innenklasse. Diejenigen, die vom System enttäuscht waren. Er zeigte, dass es eine Wähler*innenbasis für fundamentale Veränderung gibt.
Die demokratische Parteiführung bekämpfte Sanders mit großer Intensität. Das Establishment mobilisierte alle Kräfte gegen ihn. Seine Positionen waren in Umfragen mehrheitsfähig, aber seine Systemkritik bedrohte etablierte Machtstrukturen. Die implizite Botschaft: Stabilität hat Vorrang vor Veränderung.
In Deutschland zeigt die Linke, trotz all ihrer Schwächen und internen Konflikte, dass Sozialpolitik formulierbar ist, die diesen Namen verdient. Vermögenssteuer. Mietendeckel. Ausbau öffentlicher Dienstleistungen. Diese Forderungen sind in anderen Ländern bereits Realität.
Aber diese Alternativen werden systematisch delegitimiert. Als unrealistisch. Als zu radikal. Als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die liberale Mitte definiert den Rahmen des Möglichen – und dieser Rahmen schließt grundlegende Veränderung aus.
Die Frage nach Demokratie und Gleichheit
Die zentrale Einsicht, die aus der Obama-Präsidentschaft folgt: Demokratie ohne materielle Gleichheit bleibt formal. Menschen, die um ihr Überleben kämpfen, haben begrenzte Kapazität für politische Partizipation. Menschen, die sich abgehängt fühlen, werden empfänglich für autoritäre Versprechen, die wenigstens Schutz suggerieren.
Die Rechte versteht das. Ihre Strategie: Verschärfe materielle Unsicherheit. Biete simple Erklärungen. Verspreche Schutz für die Nation, die Gemeinschaft, die eigene Gruppe. Gegen die anderen. Diese Strategie funktioniert, weil sie an reale materielle Erfahrungen anknüpft, auch wenn die Ursachenanalyse irreführend ist.
Die liberale Mitte versteht es nicht. Sie glaubt, Demokratie sei vor allem eine Frage von Institutionen, Verfahren, Normen. Sie sieht nicht, dass diese Institutionen nur funktionieren, wenn Menschen materiell abgesichert sind. Wenn sie glauben, dass Politik ihnen etwas bringen kann. Wenn sie nicht das Gefühl haben, dass egal wen sie wählen, sich nichts ändert.
Aus liberaler Perspektive sind funktionierende Institutionen das Fundament der Demokratie. Aus marxistischer Perspektive sind sie Überbau, der auf materiellen Verhältnissen ruht. Aus republikanischer Tradition braucht Demokratie aktive Bürger*innen, die Zeit und Ressourcen für Partizipation haben. Aus deliberativer Sicht braucht es Räume für Austausch und Verständigung. Alle diese Perspektiven haben etwas erfasst. Keine ist vollständig.
Obamas und Merkels Politik zeigte die Grenzen eines rein institutionellen Demokratieverständnisses. Systematisch. Sie zeigten: Selbst wenn Progressive regieren, ändert sich nichts Grundlegendes. Die Banken werden gerettet, nicht die Menschen. Die Konzerne zahlen keine Steuern. Die Mieten steigen. Die Löhne stagnieren. Die Schere geht auf.
Die Gegenwart als Konsequenz
2024 ist Trump wieder Präsident. In Deutschland sitzt die AfD in allen Landtagen, stellt Ministerpräsidenten, normalisiert sich. In Frankreich steht Le Pen vor der Macht. In Italien regiert eine Postfaschistin. In den Niederlanden gewann Wilders. Die autoritäre Rechte ist nicht mehr Rand, sondern Mitte des politischen Spektrums.
Die liberale Reaktion darauf: Fassungslosigkeit. Wie konnte das passieren? Wie können Menschen so irrational wählen? Gegen ihre eigenen Interessen? Die Antwort wird gesucht in Psychologie, in Bildungsdefiziten, in der Macht sozialer Medien.
Was nicht gesehen wird: Die materielle Basis. Die jahrzehntelange Politik, die Unsicherheit produzierte. Die Entscheidungen, die Umverteilung nach oben organisierten. Die Strukturen, die Menschen systematisch ausschlossen und ihnen dann sagten, sie seien selbst schuld.
Obama war nicht der Anfang dieser Entwicklung. Aber er perfektionierte sie. Er machte sie attraktiv, hip, zukunftsweisend. Er verband sie mit Hoffnung statt Resignation. Und genau deshalb war das Scheitern so verheerend. Weil es zeigte: Selbst der beste Präsident, den wir uns vorstellen können, ändert nichts am System. Das System ist stärker.
Diese Lektion hat Konsequenzen. Sie demoralisiert Progressive. Sie öffnet Raum für Autoritäre. Und sie zeigt: Solange die liberale Mitte nicht bereit ist, ihre eigene Rolle im Entstehen der Rechten anzuerkennen, wird sich nichts ändern.
Die Verehrung Obamas und Merkels ist nicht harmlos. Sie ist Verweigerung von Analyse. Sie ist Festhalten an einem gescheiterten Projekt. Sie ist die Unfähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Und sie garantiert, dass die Bedingungen für den nächsten Trump, die nächste AfD, die nächste autoritäre Welle weiter wachsen.
Die Wall-Street-Nähe war kein Bug. Sie war Feature. Die Klassenvergessenheit war nicht Zufall. Sie war Programm. Der progressive Neoliberalismus war nicht Verrat an Idealen. Er war die kohärente Umsetzung einer Ideologie, die kulturellen Fortschritt und ökonomischen Konservatismus für vereinbar hielt. Diese Vereinbarkeit war eine Illusion. Die Rechnung liegt auf dem Tisch.
