Reale Utopie: Eine Annäherung an den Begriff 

Dieser Text entstand im Austausch mit Reinventing Society und insbesondere Lino Zeddies. Während dieses Kollektiv sich den Realen Utopien mit hohem Praxisbezug widmet, setzte ich mich in meiner Masterarbeit theoretisch mit dem Thema auseinander. Der vorgelegte Text versucht den Brückenschlag: Also Theorie greifbar machen, um Praxis zu bereichern. Im Entstehungsprozess wurde ich zu dem Thema von Neue Allianzen e.V. für ein Event eingeladen und stellte die oben gezeigten sechs Kriterien für Reale Utopien vor. Sie waren eine wunderbare Ausgangsbasis für das Film-Screening von Zeit für Utopien und eine anregende Diskussion im Anschluss. Zur Sache…

Erik Olin Wright, der zentrale Vordenker dieses Konzepts, bezeichnet Reale Utopien als Einstiegsprojekte notwendiger Transformationen. Sie besetzen die Räume & Risse des kapitalistischen Wirtschaftens mit emanzipatorischen Alternativen, die die Welt, wie sie sein könnte, vorwegnehmen. Dabei vergrößern Reale Utopien die soziale Macht gegenüber der Macht von Markt und Staat. Sie sind ein alternativer Weg zwischen Reform und Revolution. Wie Emma Goldman als Beobachterin der sowjetischen Revolution schrieb: Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution! Wie Reale Utopien auch begrifflich zum Tanzen einladen, wie sie gestalten und gestaltet werden können, welche pointierten Erkenntnisse Wright uns mitgeben kann und woran wir Reale Utopien eigentlich erkennen können – das wird in diesem Text geklärt.

Oxymoron aus Utopie und Realität

Mit Ernst Bloch wandelte sich das Utopien-Verständnis schon vor über fünfzig Jahren weg von einem abstrakten, perfekten Nicht-Ort hin zum zukünftigen, gestaltbaren Vorort: Utopie als Aufforderung ihrer Verwirklichung im Sinne es Noch-Nicht-Sein. Utopisches Denken wandelte sich somit vom abstrakten Fantasiespiel hin zur notwendigen Vorstufe zukünftiger Wirklichkeiten. Als zur Realisation einladende Fantasie, dass etwas Wunderbares möglich wird. Bloch bezeichnete Utopien bereits 1959 als Seismograf für in der Gegenwart angelegte Transformationspotenziale. Die Macht der Utopie trifft dabei auf die Gefahr des Dogmatismus, vor der Karl Popper warnt: Die eine Utopie sei immer totalitär. Das passt nicht in ein postmodernes 21. Jahrhundert, das als vielfältig, paradox und durch Ambivalenz beschrieben werden kann. Schaper-Winkel betont, dass totalitäre Utopien in einer solchen Welt keinen Platz mehr haben. Utopien sind heute reflexive Medien (wünschbarer) Zukunftsbilder.

Sie sind, wie Opielka 2019 schreibt, Denkmöglichkeiten, Szenarien einer möglichen und wünschenswerten Zukunft und um zu einer wahrscheinlichen Zukunft zu werden, müssen sie anschlussfähig an die Gegenwart sein. Ohne sie bleibt es bei einer Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft, auch wenn sie den Leuten nicht passt. Statt der einen gesamtgesellschaftlichen Utopie gilt heute mehr denn je, im Kleinen dem Wünschbaren Raum zu verschaffen. Hier helfen berührbare, nachvollziehbare Prototypen, die demonstrieren, wie die Welt anders sein kann. Mit Willy Brandt können Utopien als Grundlagenforschung gesellschaftlichen Wollens verstanden werden – und dafür brauchen sie Praxistests. Denn:

Wissen und Einsicht allein (…) reichen nicht aus, um unsere Lebenspraktiken und die Infrastrukturen des Alltags zu verändern. Man weiß, dass das stärkste Moment der Veränderung einer Praxis die Praxis selbst ist.

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung 2011

Erik Olin Wright: Der Vordenker und Praktiker

Erik Olin Wright versteht Utopien als Alternativen zu den dominanten Institutionen, die unsere tiefsten Sehnsüchte nach einer Welt verkörpern, in der alle Menschen Zugang zu den Bedingungen eines gedeihlichen Lebens haben. Gleichzeitig verweist er auf bereits bestehende reale Praktiken, die die Möglichkeit der Ausbreitung anzeigen.

Real utopias capture the spirit of utopia but remain attentive to what it takes to bring those aspirations to life.

Erik Olin Wright 2011

In Wrights 1991 gegründetem Real Utopias Project erschienen insgesamt sieben Sammelbände, die kollektive, partizipative Reflexionsprozesse widerspiegeln. Brie, zentraler Anhänger und Förderer von Wrights Ideen in Deutschland, betont das Lernpotential für Akteure, die sich für Reale Utopien einsetzen. Damit meint er konkret die Auseinandersetzung mit der Machtfrage, Emanzipations- und sozialen Lernprozessen, Wechselspiel aus Veränderung und Selbstveränderung, sowie die Frage nach der Skalierbarkeit von im Kleinen realisierten Utopien. 

Der Soziologie Müller schreibt in seinem Nachruf: Das Buch Reale Utopien dürfte in Zukunft die Handreichung sein, wenn man lernen will, wie eine fundamentale Gesellschaftsveränderung schrittweise und ohne ideologische Selbstverblendung ins Werk zu setzen ist. Williamson rezipiert den Ansatz der Realutopien als Blaupause für eine zukunftsgerichtete Linke, die intern tolerant ist und sich nicht sektiererischen Einflüssen hingibt. 

Reale Utopien als Möglichkeitsgestaltung

Eine Utopie ist ein noch nicht, aber potenziell Wirkliches. Die Utopie von heute kann die Wirklichkeit von morgen sein, die utopische Imagination ist wesentlicher Treiber von Innovationen. Martin Luther Kings berühmter Ausspruch „I have a dream“ 1963 ist eine solche utopische Imagination, die spätestens mit der Wahl des ersten schwarzen Präsidenten der USA 2009 vom Utopischen ins Faktische überging. Wie um die Möglichkeit zu betonen, beendete King seine Sequenz von „I have a dream that…“ mit der Notwendigkeit davon, den Traum in die Gegenwart zu bringen: „I have a dream today.“ 

Utopisches Denken ist nicht nur ein abstraktes Fantasiespiel, sondern auch eine notwendige Vorstufe zukünftiger Wirklichkeiten. Der deutsche Vordenker emanzipierender Zukunftsforschung Robert Jungk betonte bereits 1968, dass die Fantasie als helfende Kraft hervortreten sollte, wenn sich das bisher Mögliche als unmenschlich und deshalb als unhaltbar erwiesen hat. Ein Blick auf das, was sich in kleinen Anfängen erst andeutet, kann die eigene Fantasie stärken. Damit öffnet sich die Tür zu scheinbar Unmöglichem – zu utopischem. 

Die Agenda der Reale Utopien nach Wright zielt darauf ab, Möglichkeiten auszubauen, die sich bereits heute andeuten. Es geht um kollektive Praktiken, die aus der Gesellschaft heraus entstanden sind und nach deren Ausbreitungsmöglichkeiten zu fragen sei. Im 2011 erschienen Buch Envisioning Real Utopias nennt Wright Beispiele: 

  1. Partizipative Haushaltsplanung als eine zutiefst demokratische Alternative zu hierarchischen, technokratischen und bürokratischen Formen der Stadtverwaltung wird inzwischen von über 1.000 Kommunen in Lateinamerika praktiziert
  2. Kollaborative Peer-to-Peer-Produktionsformen wie Wikipedia als eine Alternative zu wettbewerbsorientierten, marktorientierten Wirtschaftsaktivitäten
  3. Demokratisch, von Arbeitnehmern geführte Unternehmen als eine Alternative zu autoritären kapitalistischen Unternehmen 
  4. Das bedingungslose Grundeinkommen als eine Alternative zu einem System der Einkommensverteilung, das in erster Linie auf privaten Einkünften und gezielten staatlichen Transfers beruht 

Wright plädiert für eine normativ gegründete Soziologie des Möglichen, die uns auf eine Reise schicken soll. Existierende Institutionen und soziale Strukturen sind die Ursache vieler Formen menschlichen Leidens und Einschränkungen menschlichen Gedeihens. Er empfiehlt auf Basis moralischer Prinzipien wie Gleichheit, Demokratie und Nachhaltigkeit eine Bewertung dieser Institutionen und Strukturen. Die Kritik sei Basis für die Entwicklung eines Sets von lebensfähigen Alternativen. Aus diesen Möglichkeiten lasse sich auch viel mehr über das gesuchte Zielbild ableiten, als in rein theoretischer Konzeption: Transformation als ein Wechselspiel aus Theorie und Praxis. 

Vergangene Erfahrungen auf die Zukunft zu übertragen scheint vielfach naheliegend, jedoch sind unsere Theorien über die Zukunft viel zu schwach, um wirklich irgendwelche fundierten Aussagen darüber treffen zu können, was unmöglich ist. Deshalb ist es die Aufgabe von Realutopist*innen an emanzipatorischen Idealen ohne Zynismus festzuhalten. Gleichzeitig sollten wir uns der tiefen Komplexität und der Widersprüche bei der Verwirklichung dieser Ideale bewusst sein. Möglichkeitsgestaltung bei Wright heißt entsprechend heute jene Dinge zu tun, die uns in die bestmögliche Position versetzen, darüber Hinausgehendes später zu tun, d.h. jetzt daran zu arbeiten, Institutionen und Strukturen zu schaffen, die die Chancen dafür eher erhöhen als verringern, zukünftig entstehende historische Möglichkeiten welcher Art auch immer zu nutzen. Die Verwirklichung von Realutopien kann zugleich weit umfassendere Alternativen vorwegnehmen und uns in Richtung der Verwirklichung dieser Alternativen voranbringen.

Die kritische Designerin Anab Jain betonte im Gespräch mit Stuart Candy die Bedeutung des Prozesses, der angestoßen wird, wenn Menschen sich durch ihre Arbeit Dinge vorstellen können, die sie sich sonst nicht hätten vorstellen können. Die Leute wollen etwas Konkretes, und die Sache ist die, dass es keine konkrete Antwort gibt. Es gibt kein konkretes Ergebnis, um ehrlich zu sein. Das Ergebnis ist der Prozess, durch den Sie anfangen, Ihr Denken zu verändern. Oder wie Aldous Huxley in seiner Utopie Eiland über die Bedeutung der eigenen, körperlichen Erfahrung schrieb: Seine Vernunft, seine früheren Erfahrungen versicherten ihm, daß das alles unmöglich wäre. Aber in dem jetzigen Zusammenhang hatten sich seine Erfahrungen als belanglos erwiesen. Das Unmögliche hatte sich bereits ereignet, und zwar öfters. Kein Grund, warum es sich nicht wieder ereignen sollte. Wichtig war, auszusprechen, daß es sich ereignen werde – und so sprach er es aus, wieder und wieder.

Realutopische Artefakte manifestieren Möglichkeiten

Das ist unmöglich! ist eine der gängigsten Ausreden dafür, nicht das Richtige zu tun. Die beste Antwort auf diesen Ausruf sind in Ruhe vorgetragene Beispiele, die zeigen, was möglich ist. Dabei heißt Machbarkeit nicht gleich Skalierbarkeit und System Change – sondern erstmal nur, dass Loslegen inspiriert. Egal, wohin wir gucken: Menschen und Projekte zeigen im Kleinen, was geht. Dass Wünschbares möglich ist. 

Als Mittler zwischen Revolution und Reform sind Wrights Reale Utopien zentral gekennzeichnet durch die Demonstration der Vorteile glaubwürdiger, wünschenswerter Alternativen, die Menschen überzeugen und dadurch ihre zukunftsbezogene Handlungsfähigkeit verbessern. Wright nennt hier u.a. Öffentliche Bibliotheken, Solidarische Finanzierung, Genossenschaften im Belegschafteigentum, der Rat für Sozialwirtschaft von Quebec, Urbane Landwirtschaft mit kommunalen Immobilientreuhandgesellschaften, Internetgestützte Reziprozitätswirtschaft in der Musik, Zufallsdemokratie und das bedingungslose Grundeinkommen. Jedes Beispiel für sich genommen stellt noch keine bedeutungsvolle Herausforderung für die von Wright ausgemachte kapitalistische Dominanz in der Wirtschaft dar. Aber zusammengenommen und ausgeweitet bilden sie, der Möglichkeit nach, Elemente einer umfassenden Alternative. 

Eine Utopie wird dann real, wenn sie als Artefakt auf ihre utopische Qualität überprüft werden kann. Das ist ihr großer Vorteil gegenüber einer abstrakten Idee. Denn durch das realutopische Artefakt kann eine eigenständige Resonanz-Erfahrung in Form praktischer Verstrickung von Leib, Körper und Interaktion gegen den Anspruch der Vernunft gelingen, wie der Philosoph Michael Thomas betont. Texte, Symbole und noch Greifbareres wie Prototypen, Produkte oder Prozesse können als performatives Zukunfts-Potential verstanden werden. Die Art und Weise, wie Menschen mit Artefakten interagieren und sie interpretieren, verändert die Erwartungen an mögliche Zukünfte. Realutopische Artefakte besetzen Nischen und dehnen durch irritierende, faktische Existenz die Vorstellung davon aus, was für möglich gehalten wird. Letztlich bringen sie so schrittweise notwendige Konfliktlinien zwischen Transformations-Agent*innen ans Tageslicht. 

Wer soll das bedingungslose Grundeinkommen bekommen? Ab wann? Wie viel? Um jedes Detail wird man streiten. Immer muss man darauf achten, dass die Möglichkeiten der Entfaltung des Einzelnen und die Möglichkeiten der demokratischen Beteiligung gestärkt werden. Es gibt keine Sicherheit. Nichts, das erreicht wird, ist definitiv. Es wird Rückschläge geben.

Erik Olin Wright 2019

In der Arbeit mit zukunftsgerichteten Artefakten haben Vertreter*innen verschiedener Designdisziplinen (Speculative Design, Utopia as a Method, Critical Design, Design Fiction, Experiential Scenarios) Grundlagen geschaffen, die heute auf viele Bereiche angewandt werden können und sollten. Bei Design-Theoretiker von Borries spiegeln sich in Artefakten die Bedingungen und Bedingtheiten des menschlichen Zusammenlebens. Artefakte umgehen die Gefahr des Scheiterns, da sie auf den Anspruch verzichten, die Imagination vollumfassend zu realisieren. (…) Die Utopie der Gegenwart realisiert sich nur im Vorübergehenden, im zeitlich begrenzten, aber sinnlich erfahrbaren Moment. Die Utopie wird pragmatisch und der Pragmatismus utopisch. Sein Entwerfendes Design will entsprechend in die Realität intervenieren, um für einen Moment im Hier und Jetzt die Möglichkeit Wirklichkeit werden zu lassen. Gutes Design entwirft pragmatische Utopien. 

Dunne und Raby betonen den Nutzen von Artefakten, um mögliche zukünftige Welten sichtbar und greifbar zu machen, so dass sie in Frage gestellt, diskutiert und manipuliert werden können. Sterling verwendet real erprobte Prototypen, um den Glauben an den (unmöglichen) Wandel außer Kraft zu setzen. Bleecker sieht darin Totems, durch die eine größere Geschichte erzählt, erdacht oder ausgedrückt werden kann. Sie sind wie von einem anderen Ort, die Geschichten über andere Welten erzählen. Bei Candy sollen Artefakte kognitive Dissonanzen auslösen, um Individuen herauszufordern, aus altbewährtem Denken herauszutreten und neue Ideen in das eigene Zukunftsdenken zu integrieren. Levitas unterstreicht in ihrem Sammelwerk Utopia as a method die Plausibilisierung des utopisch Wünschbaren durch handlungsleitende Artefakte. 

Wünschbarkeit, Lebensfähigkeit und Erreichbarkeit

Utopien sind das Wünschbarste: Doch für wen eigentlich? Wer wird mitgedacht, wer nicht und wer bestimmt darüber, welche Utopien groß werden? Soweit so unklar. Gerade deshalb gehen Wrights Reale Utopien darüber hinaus: Wenn du dir Gedanken über die Wünschbarkeit machst, aber die Fragen von Lebensfähigkeit oder Erreichbarkeit ignorierst, dann bist du ein schlichter Utopist. 

Es gilt den Bedenken Rechnung zu tragen, dass Emanzipation zu nicht-intendierten, teils negativen Nebenfolgen und normativen Trade-Offs führt. Der Mensch ist nur bedingt in der Lage, die komplexe Welt nach seinen Wünschen zu gestalten. Entsprechend lautet eine zentrale Frage im Umgang mit Realen Utopien: Kann in der Alternative, so sie hervorgebracht werden kann, verblieben werden oder würde sie mit solchen nicht-intendierten Konsequenzen und selbstzerstörerischen Dynamiken verbunden sein, dass sie nicht nachhaltig wäre? Kurz: Ist die Utopie lebensfähig?

Ist die Lebensfähigkeit gegeben, geht mit ihr Positives einher: Denn die Entwicklung von glaubwürdigen Ideen über lebensfähige Alternativen ist einer der Wege, ihre Erreichbarkeit zu begünstigen. Bei der Frage, wie wir von hier nach dort kommen, ist ein Perspektivwechsel auf Erfolg vonnöten. Die Akteure erkunden bewusst experimentell und temporär divergente Lebens- und Wirtschaftsformen, die sie auch selbstbewusst als solche markieren. Die Wünschbarkeit motiviert, die Lebensfähigkeit demonstriert Selbstwirksamkeit und stärkt damit eine breitere Emanzipation, die die Erreichbarkeit begünstigt.

Es geht nicht nur darum, jetzt die Welt zu verändern, die wir verstanden haben, sondern auch darum, die Welt zu verändern, um sie besser zu verstehen.

Michael Burawoy 2015

Soziale Macht gegenüber Politik und Wirtschaft stärken

Erik Olin Wright will die Dichotomie von staatlicher Planung und freier Marktlogik aufbrechen und um soziale Macht ergänzen, welche in strukturellen Hybriden immer zu stärken ist. Es geht ihm um die Verlagerung der Macht weg von Herrschaft. Macht sei die Fähigkeit, in der Welt Dinge zu tun, die Wirkungen haben. Man kann dies einen akteurszentrierten Begriff von Macht nennen: Menschen, individuell und kollektiv handelnd, nutzen Macht, um Dinge zu erreichen. Die Hebel der Macht, die wir Menschen haben, sollen Veränderungen bewirken, die mit der Zeit zu einer anderen Art von System führen können. Der Kampf um Demokratie, darum, dass Menschen mitbestimmen über alles, was sie betrifft, muss, um erfolgreich sein zu können, auf allen Ebenen – gewissermaßen vom Gemeinderat bis zur Uno – geführt werden. Aktivitäten, die sich aus dem allgemeinen Kampf um mehr Demokratie heraushalten, bringen nach Wright nichts. Nach Wright ist Demokratie dabei als Unterordnung der Staatsmacht unter die Gesellschaft zu verstehen. 

Soziale Macht wird zum Beispiel in der brasilianischen Stadt Porto Alegre ausgeübt, in dem seit einem Vierteljahrhundert die Bürger darüber bestimmen, wie die Haushaltsmittel eingesetzt werden. Entgegen allen Vorurteilen zeigt sich, dass ärmere Menschen sich an Partizipationsverfahren sogar überdurchschnittlich beteiligen, wenn es um echte Entscheidungen über praktische Fragen geht. Wo Partizipation dagegen vor allem Symbolpolitik ist, sind wohlsituierte Bürger weitgehend unter sich. Dem von Millionen Menschen angewandten Glaubenssatz Ich alleine kann die Welt doch eh nicht verändern (und deswegen handle ich nicht) werden kleine Erfolgserlebnisse demokratischer Selbstwirksamkeit entgegengestellt. Die entsprechende Herstellung und Selbstbestätigung von Reale Utopien verkörpern gegenwärtige Projekte der sozialen Emanzipation, auf denen wiederum aufgebaut werden kann.

Auch Eva von Redecker analysiert mit Blick auf soziale Innovationen, dass soziale Macht nicht auf die Hilfe von Politik und Wirtschaft zählen kann. Zwar beteuern Steuerungseliten ihre Einsicht in die Notwendigkeit fundamentaler Transformationen. Last und Verantwortung für die damit verbundenen Unsicherheiten, Verluste und Konsequenzen werden jedoch delegiert und anhand eines überkommenen quantitativen Maßstab beurteilt. Rahmenbedingungen für transformative Experimente begünstigen soziale Ermächtigung oft nicht, weil die zugrundeliegenden Herrschafts- und Definitionsverhältnisse eher auf Selbsterhaltung ausgerichtet sind. 

Soziale Macht bedarf Solidarität 

Reale Utopien können im Kontext von politischen Kämpfen geschaffen werden, in anderen Fällen entstehen sie leise, ohne scharfe Konfrontation. Manchmal befinden sie sich im offenen Konflikt mit dominanten Institutionen, ein anderes Mal besetzen sie Nischen innerhalb des sozioökonomischen Systems. Wright entwirft sieben hybride Konfigurationen zwischen Reform und Revolution, einem starken Bekenntnis zu institutionellem Pluralismus und Heterogenität, aber immer dem Ziel sozialer Ermächtigung folgend. Energie solle nicht durch ein Gegeneinander und die universelle Überhöhung des eigenen Ansatzes verschwendet werden. Solidarische Anerkennung der Anderen, sowie deren Ansprüche, Bedürfnissen, Identitäten, Denkmodellen oder Organisationsformen für sozialen Wandel.

Entsprechend nannte Wright sein Verständnis von Solidarität auch Regenbogenprinzip
Trotz kultureller Diversität, trotz unterschiedlicher Sexualitäten und Identitäten gilt es, solidarisch miteinander umzugehen. Manche Linke meinen ja, dass beispielsweise die Kämpfe von Transgender etwas Anderes seien als die Kämpfe von Arbeitern. Ich denke das nicht. Ich meine, dass all diese Kämpfe sich am gleichen moralischen Kompass orientieren und dass es für uns einfacher ist, eine Einheit herzustellen, wenn wir uns auf diese moralischen Prinzipien beziehen. Natürlich geht es nach wie vor auch um Interessen. Wir alle würden in einer egalitären, demokratischen und sozialistischen Gesellschaft besser leben. (…) Wir brauchen eine Demokratisierung der Gemeinschaft. Es reicht nicht zu sagen: Wir wollen eine Macht, die auf dem Kollektiv beruht. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Gemeinschaften selbst demokratisiert werden. Und um demokratisch zu sein, dürfen Gemeinschaften nicht ausschließen. Es ist nämlich eine fundamentale Grundlage von Demokratie, dass alle Menschen gleichermaßen Zugang zu den Partizipationsmöglichkeiten haben

Mit Blick auf unsere Berliner Verortung kann das beispielsweise so aussehen: Futurzwei berichtet über Kiezbett, die Soulbottles bei der Gemeinwohlbilanzierung treffen, welche als Mitinitiator*innen der Purpose-Stiftung auch bei Entrepreneurs for Future aktiv sind, wo aber auch Vereine wie „Mein Grundeinkommen“ dabei sind, deren Gründer u.a. die gelosten Bürgerräte unterstützt, dessen Gründer mit dem Initiator des gemeinwohlorientierten Transform-Magazins in einer Nachhaltigkeitsagentur seine Brötchen verdiente etc.

Im Kern geht es Wright darum, dass emanzipierte Subjekte ihre Stimme erheben und ihre soziale Macht in Anspruch nehmen, ohne die Freiheit anderer zu negieren. Sie mischen sich in den Transformationsprozess ein, ohne einen unwissbaren Endzustand in Form eines Zukunftsbildes herbeiführen zu wollen oder die Kontrollmacht anzustreben. 

Mehrdeutige Utopien

Die Meisterin der Fantasy-Literatur nannte eines ihrer Hauptwerke: The Dispossessed: An Ambiguous Utopia. Sie zeigt in dem Buch zwei Welten und es scheint erstmal klar, welches die gute und welches die schlechte ist. Doch in der Auseinandersetzung zeigt sich schnell, was ein Protagonist so in Worte fasst: We have no law but the single principle of mutual aid between individuals. We have no government but the single principle of free association (…) if it is the future you seek, then I tell you that you must come to it with empty hands (…) You cannot buy the Revolution. You cannot make the Revolution. You can only be the Revolution. It is in your spirit, or it is nowhere.

Utopien sind nie eindeutig. Sie sind ambiguous – mehrdeutig. So werden auch die Räume und Risse des Kapitalismus mit Le Guin unterschiedlichst gedeutet werden: My imagination makes me human and makes me a fool; it gives me all the world and exiles me from it.

Während Realisten den Utopisten Naivität vorwerfen und sie mahnen, sich auf reale Problemlösungen innerhalb des Vorgegebenen zu konzentrieren, werden diese in der Realisierung mit diesen Mehrdeutigkeiten konfrontiert. Innerhalb dieser wissen sie, dass der scheinbar leichtere Weg der Realisten die großen Gefahren des Zynismus und der Depression birgt. Andererseits ist der utopische Weg inhärent scheiternd, da der unerreichbare Ort nicht erreicht werden kann. Er verschiebt sich immer wieder. Und trotzdem liegt das größte Scheitern doch eher darin, nie anzufangen. Zur feministischen Revolution und dessen Genese im Kontext von Le Guin schreibt der kapitalismuskritische SciFi-Autor Sean Guynes: We are all part of a collective action that can only ever be ongoing and that can only ever be achieved collectively.

Realutopist*innen halten an emanzipatorischen Idealen ohne Zynismus fest, sind sich jedoch gleichzeitig der tiefen Komplexität und der Widersprüche bei der Verwirklichung dieser Ideale bewusst. Statt darauf zu warten, beteiligt zu werden, sind emanzipierte Betroffene in der Lage, sich aktiv zu beteiligen und stärken damit, wann immer es geht, kollektive Ansätze von Problemlösung. Gerade deshalb muss auch solidarische Kritik möglich sein. Sie fragt aber eher, ob der gewählte Ansatz plausibel soziale Macht steigert, Möglichkeiten öffnet, realutopische Artefakte hervorbringt, die auf Lebensfähigkeit und Erreichbarkeit, sowie die Steigerung sozialer Macht gerichtet sind. Eine der Mehrdeutigkeit bewusste Kritik zieht die eigene Handlungsebene nicht auf die Diskursebene. Sie fragt nicht, ob der Ansatz so ist, wie ich es für richtig halte. 

Schlussbetrachtung: Kritik, Systemtransformation und Zufall

Für sein langjähriges Wirken hat Wright auch Kritik von radikalen Linken Aktivist*innen erhalten, die den lokalen, gemeinschaftsbasierten Initiativen den Systembezug absprechen. Die Projekte bilden keine politische (Gegen-)Macht und seien zu wenig konfrontativ. Diese verengte Sicht weist Erik Olin Wright zurück: Ein Weg, ein (Öko)system zu transformieren, ist die Einführung einer fremden Art, die zunächst eine Nische findet und dann schrittweise bestimmte andere Arten ersetzt. 

Wirksamkeit ist nicht planbar. Der utopische (Sprach-)Wechsel nach Rorty könne jedoch gelingen, wenn wir als „Dichter“ manchmal (…) zufällig treffende Worte für gesellschaftliche Phantasievorstellungen finden; Metaphern, die zufällig den undeutlich empfundenen Bedürfnissen der übrigen Gesellschaft entsprachen. Genau dafür sind gegenseitige Unterstützung und symbiotische Strategien unerlässlich. Für den daraus hervorgehenden zwangsläufig-uneindeutigen Prozess wird solidarische Begleitung gefordert, damit sich Reale Utopien als Artefakte manifestieren können, die unsere Wirksamkeit zeigen, mögliche Zukünfte zur Reflexion in die Gegenwart beamen, solidarische Kritik ermöglichen und alternative Handlungsoptionen eröffnen. 

Blogadmin, kritischer Zukunftsforscher und Realutopist. Mehr über den Blogansatz unter dem Menüpunkt Philosophie.

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