Individualismus im kapitalistischen Korridor
Dieser Text ist im Gespräch mit dem KI-Assistenten Claude entstanden. Die Gedanken wurden gemeinsam entwickelt, die Formulierung folgt meiner Stilbiografie.
Der Kapitalismus und anarchistische Bewegungen sprechen beide von Individualität, von Selbstverwirklichung, von Freiheit. Sie meinen dabei etwas fundamental Verschiedenes. Diese Differenz berührt die Frage, wie du überhaupt leben kannst, ohne dich permanent selbst zu verwerten oder von anderen ausgebeutet zu werden.
Der anarchistische Individualismus versteht das Ich nie als isoliert. Emma Goldman hat das präzise formuliert: Wahre Freiheit existiert nur in der Freiheit aller. Selbstverwirklichung ist hier ein kollektiver Prozess. Du wirst nicht frei, indem du dich von allen Bindungen löst, sondern indem Herrschaftsverhältnisse abgebaut werden. In dir selbst und in den Strukturen um dich herum. Das zeigt sich praktisch in selbstverwalteten Projekten, besetzten Häusern, Care-Netzwerken, Kollektivbetrieben. Orte, an denen deine Fähigkeiten die Gruppe bereichern, nicht weil du damit Profit machst, sondern weil Vielfalt Stärke ist.
Der kapitalistische Individualismus funktioniert nach einer anderen Logik. Hier bist du Unternehmer*in deiner selbst, deine Persönlichkeit ist deine unique selling proposition, deine Story muss sich verkaufen lassen. „Sei du selbst“ meint in diesem Kontext: Finde die Version von dir, die am Markt funktioniert. Diese Logik hat mittlerweile auch vermeintliche Gegenentwürfe kolonisiert. Alternative Lebensmodelle werden zu Lifestyle-Choices, Rebellion zur Ästhetik, Nonkonformismus zum Marktsegment. Du kannst deine Authentizität inszenieren, deine Selbstfindung monetarisieren, deine mentale Gesundheit zum Content machen.
Es fühlt sich oft wie Freiheit an. Freelance statt Festanstellung, ortsunabhängig arbeiten, flexible Zeiteinteilung. Tatsächlich bist du dein eigener Aufseher geworden. Die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit verschwinmt, weil du immer an dir arbeitest. Dieses Selbst ist gleichzeitig dein Produkt.
Der Staat als Komplize der Ambivalenz
Der Staat spielt in dieser Dynamik eine fundamental widersprüchliche Rolle. Einerseits ist er der Garant kapitalistischer Ausbeutungslogik. Ohne staatliche Gewalt gäbe es keine durchgesetzten Eigentumsverhältnisse, keine garantierten Verträge, keinen Zwang zur Lohnarbeit. Die Einhegungen, die gewaltsame Privatisierung von Gemeingütern, haben Menschen erst in die Lage versetzt oder gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Diese Funktion ist nie verschwunden.
Besonders subtil wird es im neoliberalen „aktivierenden Staat“. Der spricht nicht mehr von Zwang, sondern von Eigenverantwortung. Du bist Unternehmer*in deiner selbst, und der Staat bietet dir großzügig die „Chance“, dich zu optimieren. Dass diese Chance ein Zwang ist, versteckt sich hinter der Freiheitsrhetorik. Wer nicht mitspielt, wird sanktioniert. Versteh das bitte nicht als Repression, sondern als „Anreiz“. Der Staat tritt als Coach auf, nicht als Befehlsgeber. Die Internalisierung funktioniert besser, wenn du glaubst, es sei deine eigene Entscheidung.
Gleichzeitig hat der Sozialstaat historisch Freiräume geschaffen. Öffentliche Bildung, Gesundheitsversorgung, soziale Sicherung: Errungenschaften kollektiver Kämpfe, die individuelle Selbstbestimmung überhaupt erst möglich machen. Wenn du nicht permanent um dein Überleben kämpfen musst, kannst du Dinge tun, die nicht unmittelbar verwertbar sind. Der Wohlfahrtsstaat war nie emanzipatorisch genug, aber er hat Spielräume eröffnet, die in reiner Marktlogik nicht existieren würden.
Der Staat ist umkämpftes Terrain. Progressive haben in der Vergangenheit durchaus staatliche Macht genutzt, um emanzipatorische Projekte voranzutreiben. Von Arbeitszeitverkürzung über Antidiskriminierungsgesetze bis zu öffentlicher Infrastruktur. Das sind keine Endpunkte, aber sie verschieben Machtverhältnisse. Gleichzeitig darf darüber nicht vergessen werden, dass der Staat nie neutral ist. Er ist durchzogen von Klassenverhältnissen, Rassismus, Patriarchat. Seine Bürokratie reproduziert Herrschaft, seine Polizei ist strukturell repressiv, sein Gewaltmonopol schützt primär die Besitzenden.
Der Korridor und was dahinter fehlt
Der Staat schützt die Freiheit des Individuums innerhalb eines kapitalistischen Korridors. Du darfst besitzen, reisen, deine Karriere wählen, konsumieren. Das ist nicht nichts. Aber es ist eben nur jener Ausschnitt von Freiheit, in dem Kapitalismus funktioniert. Was systematisch fehlt, sind all jene Freiheiten, die die Grundstrukturen selbst in Frage stellen würden.
Die Freiheit, nicht zu arbeiten, existiert nicht. Du darfst frei wählen, für wen du arbeitest. Aber dass du arbeiten musst, steht außer Frage. Der Arbeitszwang ist die unausgesprochene Voraussetzung aller anderen Freiheiten. Die Freiheit, ein Leben jenseits der Lohnarbeit zu führen, dich um Angehörige zu kümmern, künstlerisch tätig zu sein, politisch zu organisieren, wird aktiv unterbunden. Das zeigt sich konkret in der Sanktionspraxis bei Sozialleistungen. Wenn du nicht „kooperierst“, also nicht jede zumutbare Arbeit annimmst, wird dir die materielle Existenzgrundlage entzogen.
Ökonomische Demokratie fehlt ebenfalls. Du verbringst einen erheblichen Teil deines Lebens in hierarchischen Unternehmensstrukturen, in denen du keinerlei Mitspracherecht hast. Wie produziert wird, was produziert wird, wie Gewinne verteilt werden: Darüber entscheiden nicht die, die die Arbeit machen, sondern die, die das Kapital besitzen. Der Staat schützt diese Asymmetrie explizit. Eigentumsrechte trumpfen Mitbestimmung. Selbstverwaltete Betriebe, Genossenschaften, kollektive Eigentumsformen existieren marginal, werden aber nicht systematisch gefördert. Im Gegenteil. Banken finanzieren sie ungern, rechtliche Rahmenbedingungen sind kompliziert, staatliche Unterstützung minimal.
Zeitliche Autonomie bleibt unerreichbar. Du darfst frei wählen, was du in deiner Freizeit machst. Aber wie viel Freizeit du hast, wann du arbeitest, wie dein Tagesrhythmus aussieht, wird von außen bestimmt. Eine 40-Stunden-Woche mag besser sein als eine 60-Stunden-Woche, sie ist aber immer noch eine massive Einschränkung. Die Freiheit, grundsätzlich anders mit Zeit umzugehen, existiert nicht. Phasenweise mehr oder weniger zu arbeiten, je nach Lebenssituation. Kollektiv Arbeitszeiten zu reduzieren, ohne dass das Existenzängste auslöst. Rhythmen zu leben, die nicht dem industriellen Takt folgen.
Bedürfnisorientierung ist im kapitalistischen Korridor nur relevant, wenn Bedürfnisse zahlungsfähig sind. Du darfst frei konsumieren, aber nur, wenn du Geld hast. Bedürfnisse, die sich nicht monetarisieren lassen, bleiben unbefriedigt. Wohnen: Du hast theoretisch die Freiheit zu wohnen, wo du willst. Praktisch ist Wohnraum Ware, und wenn du ihn dir nicht leisten kannst, gehst du leer aus. Der Staat schützt dein Recht auf Eigentum, aber nicht dein Recht auf Wohnen. Gesundheit, Bildung, Mobilität, kulturelle Teilhabe folgen derselben Logik.
Die Freiheit zu sorgen wird systematisch abgewertet. Care-Arbeit ist fundamental für jedes menschliche Leben, aber im kapitalistischen Freiheitsbegriff kommt sie kaum vor. Der liberale Individualismus tut so, als wären wir alle autonome Einzelwesen. Tatsächlich sind wir durchgehend auf Fürsorge angewiesen. Als Kinder, im Alter, bei Krankheit, eigentlich permanent. Diese Angewiesenheit wird unsichtbar gemacht oder privatisiert. Und jene, die Care-Arbeit leisten, mehrheitlich Frauen, mehrheitlich migrantische Frauen, werden dafür ökonomisch bestraft.
Die Freiheit, Commons zu schaffen und zu nutzen, fehlt ebenfalls. Gemeingüter, ob natürliche Ressourcen, Wissen, kulturelle Produktionen, öffentliche Räume, sind Dinge, die niemandem allein gehören sollten. Aber der Staat schützt primär private Eigentumsrechte, nicht kollektive Nutzungsformen. Das Urheberrecht, Patentrecht, Markenrecht dienen dazu, Wissen und Kultur privatisierbar zu machen. Die Freiheit, Wissen frei zu teilen, kollektiv weiterzuentwickeln, ohne Profitinteressen, wird systematisch eingeschränkt.
Die Grenze des Denkbaren
All diese fehlenden Freiheiten würden die kapitalistischen Grundstrukturen in Frage stellen. Wenn du nicht mehr arbeiten müsstest, um zu überleben, wer würde dann die unterbezahlten, unangenehmen Jobs machen? Wenn Betriebe demokratisch verwaltet würden, wer würde dann die Profite einstreichen? Wenn Bedürfnisse direkt befriedigt würden, wozu bräuchte es dann noch Märkte?
Der liberale Staat schützt nicht Freiheit an sich, sondern jene Freiheiten, die mit Privateigentum an Produktionsmitteln kompatibel sind. Alles andere liegt außerhalb des Korridors. Das erklärt, warum progressive Forderungen so oft an Grenzen stoßen. Bedingungsloses Grundeinkommen würde Arbeitszwang aufheben. Echte Arbeitszeitverkürzung würde Profitabilität gefährden. Wohnungsenteignung tastet Eigentumsrechte an. Die Freiheiten, die wirklich emanzipatorisch wären, sind genau die, die der Staat nicht schützt.
Vielleicht liegt das wichtigste Unterscheidungsmerkmal woanders: Der kapitalistische Individualismus verspricht dir Vervollständigung. Es gibt immer das nächste Level, den ultimativen Hack, die beste Version deiner selbst, die du erreichen kannst, wenn du nur hart genug arbeitest. Du bist ein Projekt, das irgendwann abgeschlossen sein könnte.
Die anarchistische Perspektive versteht Menschen als fundamental unabgeschlossen. Du bist kein Projekt, sondern ein Prozess. Dieser Prozess ist immer verwoben mit anderen Prozessen, anderen Menschen, anderen Kämpfen. Es gibt keine finalisierte Version von dir. Das ist keine Schwäche, sondern eine Grundbedingung von Freiheit. Du musst nicht mehr die beste Version deiner selbst werden. Du kannst einfach sein, verändern, ausprobieren, scheitern, neu anfangen, ohne dass das ständig bewertet, gemessen, verwertbar gemacht werden muss.
Der kapitalistische Korridor ist breit genug, um nicht als Gefängnis zu erscheinen. Er ist eng genug, um all jene Freiheiten auszuschließen, die ihm gefährlich werden könnten. Die fehlenden Freiheiten entstehen nicht dadurch, dass der Staat sich selbst transformiert. Sie entstehen in konkreten Kämpfen um Zeit, um Ressourcen, um Räume. Strukturen, die den Korridor nicht erweitern, sondern aufbrechen.
