Auf ein Wort #1: Ambiguitätstoleranz
tl;dnr: Ich verstehe Ambiguitätstoleranz als „Vieldeutigkeit und Unsicherheit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können“ (Ikud). Ambiguitätstoleranz kann als Antwort auf das Streben nach Sicherheit und damit einhergehender, vorschneller Schließung verstanden werden. In Beispielen zeigt der folgende Text, welche schönen Möglichkeiten durch ambiguitätstolerantes Verhalten entstehen.
“Auf ein Wort” kann und darf eine Reihe von Texten werden, die sich verschiedenen Begriffen annähert. Einerseits Begriffe, die ich schön & wichtig finde, aber vergleichsweise unterrepräsentiert verwendet sehe. Andererseits solche, die sehr viel, mit sehr wenig Kontext, benutzt werden. #1 entstand mit der wunderbaren Julia Wallner als Wort-Pingpong-Partnerin.
Basisdefinition Ambiguitätstoleranz
Else Frenkel-Brunswik etablierte den Begriff als scheinbar eindeutiges, unveränderbares Persönlichkeitsmerkmal 1949 – entweder du kannst mit Differenz, Ambivalenz oder demokratischen Aushandlungsprozessen umgehen oder nicht. Mehr dazu und zur aktuellen Diskussion zum Thema in einem ausführlichen Beitrag des Deutschlandfunk Kultur, auch der Podcast vom SWR ist zu empfehlen. Ich werde im folgenden im Sinne meiner Ambiguitätstoleranz argumentieren, dass diese naturwüchsige Unterscheidung in Persönlichkeitsmerkmale bei weitem nicht so dominant ist, wie damals – zu dieser Zeit passend – angenommen wurden.
Klar: Der Mensch hat ein grundsätzliches Bedürfnis nach Eindeutigkeit, da diese Sicherheitsstiftend wirkt. Es scheint so einfach und verlockend Trump, den Chef oder die öffentlichen Verkehrsmittel blöd zu finden, wenn die gerade Mal wieder was “verkackt” haben. Auch bei Corona deutet sich eine solche Polarisierung an: Entweder radikal für die staatlichen Sicherheitsmaßnahmen oder für die “individuelle Freiheit” aka Verschwörungstheoretiker.
Aus solchen Arten von Undifferenziertheit geht ein zentrales Problem hervor: Die Kommunikation reißt ab. Und ohne Kommunikation miteinander, können sich die Gegensätze im Prinzip nur verstärken. Da kommt die Ambiguitätstoleranz ins Spiel. Sie fordert das grundsätzliche tolerieren von Mehrdeutigkeit im Leben. Wir können oft nicht wissen, wie etwas wirklich ist. In diesen Momenten hilft die antrainierbare Fähigkeit, Uneindeutigkeit auszuhalten. Die gewaltfreie Kommunikation fordert uns beispielsweise dazu auf, das “aber” nur so lange als Platzhalter zu nutzen, bis wir ein “und” gefunden haben.
Gerade in Krisensituationen profilieren sich Propheten wie Matthias Horx mit klaren Ansagen: “Die Krise wird jetzt dazu führen, dass…” Hierin beschreibt er eine für ihn perfekte Welt und Menschen die jetzt ganz automatisch aus den aktuell aufgeworfenen Themen lernen werden und nimmt dadurch die Anspannung raus. Es wird ja sowieso passieren. Doch Mehrdeutigkeit heißt Anspannung und bedarf Auseinandersetzung und Reibung. Die perfekte Welt gibt es nicht – und sie wird sich schon gar nicht einfach so ergeben.
Wir alle kennen verschiedene Formen von Mehrdeutigkeit. Ob schriftlich – “Komm wir essen Opa” – missverständlich-ironische Gesprächen mit Freunden oder im beruflichen Kontext. Jegliche Art von Gespräch zu führen heißt heute nicht mehr von oben zu sagen, wie etwas ist, sondern die verschiedenen Interessen und Sichtweisen zu moderieren. Das eigene Unwohlsein gegenüber gewissen, von anderen geäußerten Sichtweisen über die andere Person als solche zu stellen, erzeugt tendenziell kommunikative Probleme. Ambiguitätstolerantes agieren bedeutet dann beispielsweise zu erkennen, wie bei mir Unwohlsein eintritt und damit so umzugehen, dass der Kontakt nicht abbricht – also andere für ihre Interpretation der Welt nicht grundsätzlich abzuwerten, sondern so offen wie möglich zu bleiben. Ich ertrage den Unterschied.
Einschub: Inneres Team
Unterschiede, Vieldeutigkeit und Unsicherheit, davon bin ich fest überzeugt, werden zwar primär im Außen wahrgenommen, spielen aber auch im Inneren der Menschen eine wesentliche Rolle. Der renommierte Wissenschaftler, Trainer und Autor Schulz von Thun schreibt auf seiner Website:
Wenn wir in uns hineinhören, finden wir dort selten nur eine einzige „Stimme”, die sich zu einer bestimmten Situation oder einem Thema zu Wort meldet. In der Regel stoßen wir vielmehr auf verschiedene innere Anteile, die sich selten einig sind und die alles daran setzen, auf unsere Kommunikation und unser Handeln Einfluss zu nehmen. Ein Miteinander und Gegeneinander finden wir demnach nicht nur zwischen Menschen, sondern auch innerhalb des Menschen. Obwohl ein zerstrittener Haufen im Inneren überaus lästig und quälend sein und bis zur Verhaltenslähmung führen kann, handelt es sich dabei nicht um eine seelische Störung, sondern um einen ganz normalen menschlichen Zustand. Diese „innere Pluralität” ist letztlich auch wünschenswert. Wenn nämlich aus dem zerstrittenen Haufen ein Inneres Team wird, werden innere Synergieeffekte freigesetzt. Diese rühren vor allem daher, dass die „vereinten Kräfte” mehr Weisheit in sich tragen, als eine einzelne Stimme allein.
Zum Menschsein gehört es, verschiedene Stimmen in sich zu tragen, die andere Dinge wollen und andere Schwerpunkte haben. Sie auszuhalten und zu moderieren ist mitunter eine nie endende Lebensaufgabe. Individualität ist ein nie enden wollendes Selbst-Experiment, wie Foucault einst sagt. Die Kernthese von von Thun lautet: Moderiere deine Stimmen wie ein guter Chef, um physischen und psychischen Problemen vorzubeugen. Während Eindeutigkeit für den menschlichen Überlebenskampf nützlich war, scheint mir die Menschheit jetzt in einem “Reifestadium” angelangt, in dem wir Differenzen erkunden dürfen, können und sollten. Wir können uns den eigenen und fremden Differenzen und Unsicherheiten stellen. Und tun das auch schon vielfach…
Beispiele: In Filmen und mit Menschen
Wenn ich mich an diverse Dokus oder Interviews mit ausgestiegenen Ex-Neonazis erinnere, lässt sich der Grund für ihren Ausstieg auf einen Grund reduzieren: Die Stimmen in ihrem Kopf wurden zu laut. “Das geht jetzt so nicht mehr” oder “Ich ertrag das nicht mehr” – die dominanten, eindeutigen Stimmen fühlen sich dann anscheinend irgendwann nicht mehr richtig an. Sie wollen zwar weiter den Ton angeben, aber die Zweifel sind nicht mehr zu überhören. Diese Zweifel benötigen Kraft und Mut, um zuzulassen, was da an kleinen Pflänzchen in einem da ist. Sie benötigen Ambiguitätstoleranz.
Ein ganz anderes Beispiel ist der Film “Tenet” von Christopher Nolan. Dieser Film ist im ersten Drittel aufgebaut, wie ein klassischer Agenten-Thriller. Doch auf einmal wird alles bisher gesehene auf den Kopf gestellt. Die Zusehenden haben quasi keine Chance zu verstehen, was da gerade passiert. 5-15 Minuten sind sie absoluter Uneindeutigkeit ausgesetzt. Warum das Beispiel? Weil die kurze Zeitspanne ein wunderbarer Test zu sein scheint: Wie Ambiguitätstolerant bin ich? Finde ich das gerade spannend? Wie wird es sich entwickeln? Welche Entwicklungen ergeben sich? Oder aber: Was soll das? Warum jetzt diese unnötige Wendung? Hier hilft meiner Meinung nach, sich weniger zu bemühen möglichst alle Details zu verstehen, weil sich durch den Fokus auf den roten Faden vieles ganz von selbst erschließen wird.
Die Spannbreite reicht von absoluter Begeisterung für die neuen Möglichkeitsträume bis hin zum kompletten ausklinken aus dem Film wegen der fehlenden Sicherheit. Bei den allermeisten wird es tendenziell aber Stimmen aus beiden Teams geben. Spannend ist hier: Welche sind besonders laut und dominant? Warum? Welche Bedürfnisse rücken in den Mittelpunkt?
Ich hatte die letzten Jahre ein schönes Erlebnis in einer Menschengruppe, in der ich einen klassischen Reflexionsmoment der Ambiguitätstoleranz erlebte. In einer Gruppe von 30 Menschen gab es einen Mann, der zwar mit vielen Frauen ganz entspannt quatschen konnte, in Anwesenheit mehrer anderer Männer aber sichtbar unsicher wurde. Er kompensierte seine Unsicherheit mit seltsamen Monologen. Mein erster Impuls: komischer Typ. Will ich nix mit zu tun haben, lieber Distanz halten. Denn: Seine Unruhe übertrug sich auf mich. Doch meine Schublade war noch nen bisschen offen, nicht dreifach verriegelt und den Schlüssel entsorgt. Es ergab sich in der Folge, dass wir in 1:1 Situationen ganz locker sprechen konnte. Wir fanden ein paar Schnittmengen-Themen und ich brachte meine Ruhe ein und ließ ihm den Raum, den er brauchte, um mir dann wiederum auch Raum geben zu können. Fürs Kennenlernen war also entscheidend, dass ich Seiten von mir anders betonte und erkundete. Für das Einlassen aufeinander hängt viel von mir ab!
Anstatt also meinem Impuls zu folgen, der Kommunikation verunmöglicht hätte, versuchte ich mich mal wieder an einem neuen Weg, weil das Leben eben seltenst Eindeutig und abgeschlossen ist. Auch wenn das aktuell dominante Erziehungsmodell vielleicht vorgaukelt, dass es wichtig wäre Eindeutigkeit zu erzeugen: Nicht dein Lösungsweg wird beurteilt, sondern ob du DIE richtige Lösung hast. Wenn wir wüssten, dass Uneindeutigkeit nicht falsch ist bzw. viele permanent damit umzugehen haben, könnte wir sie wohl besser aushalten.
Grenzen der Ambiguitätstoleranz
Doch selbstverständlich gibt es auch Grenzen der Ambiguitätstoleranz, wie der Toleranz allgemein. Uneindeutige Äußerungen zu Fragen der Identität wie Herkunft, Geschlecht etc. beinhalten häufig die Möglichkeit auf Inakzeptables. Diese Uneindeutigkeit relativiert nur insofern, wenn der Sender auf Nachfrage ausschließt, dass das gemeint war. Üblich und kulturell gängig ist eher ein “hab dich nicht so, war doch nur nen Scherz” – ich halte dieses Spiel mit Ambiguität nicht für tolerierbar.
Moderne Formen von Führung haben sich diese Frage in ihrer moderativen Rolle immer wieder zu stellen. Verschiedene Perspektiven wollen gehört, verletzende aber auch als solche markiert werden. Im Status Quo beobachte ich genau dabei die größten Probleme: Eigentlich wollen wir einbeziehen, wissen aber nicht genau wie. Eigentlich wissen wir, dass eine funktionierende, synchronisierte Gruppe deutlich angenehmer und effizienter ist, aber der Weg dorthin ist so steinig, dass dann doch wieder die Eindeutigkeit von Oben gesucht wird.
Mehrdeutige Gruppenarbeit umfasst für mich daher nicht eindeutige Langfrist-Lösungen, sondern das zwischenzeitliche einigen auf Versuchsanordnungen, die “good enough for now, safe enough to try” sind und von denen aus persönliche Lernerfahrungen neue Lösungen ermöglichen. Solche “Erkundungs-Entscheidungen” grenzen sich damit stark von denjenigen ab, die so viel Sachen als gesetzt annehmen (Sachzwänge), dass eigentlich keine andere Entscheidung möglich ist, als die, die die Pfadabhängigkeit vorgibt. Und Pfadabhängigkeiten sind meiner Meinung nach System- und nicht Menschengemacht. Doch das wäre ein anderes Thema…
Ambigious Utopias
“Ambigious Utopia” war der Untertitel des Buchs “The Dispossessed” von Ursula le Guin. Die darin verhandelte Utopie ist eben nicht eindeutig schön und ganz wunderbar. Sie zeigt, dass verwirklichte Träume auch wieder ihre Schattenseiten mit sich bringen (kann). Wenn es eindeutig ist, ist es keine Utopie mehr. So einigte sich die (post-)moderne Utopienforschung innerhalb der letzten Jahrzehnte eine Konsequenz hervor: Die eindeutige Utopie ist totalitär und herrschaftlich. Die eigenen Vorstellungen sind nicht fehlerfrei oder makellos – und genauso die der anderen. Das ist beides ganz natürlich und kein Grund sich oder die anderen zu verurteilen. Es geht um’s lernen und dafür benötigen wir immer ein Stückchen Offenheit. Etwas zu machen, was besser ist als jetzt, ist in dieser Perspektive immer wünschenswert. Menschen ändern sich vor allem dann, weil sie wollen, weil sie es fühlen. Weil sie in Kontakt mit ihrer Mehrdeutigkeit und der anderer gekommen sind.
“Keiner ist frei bis wir nicht alle frei sind” sagt die Journalistin Helen Fares am Ende der mehrfach preisgekrönten Doku “Mode. Macht. Menschen.” und betont damit indirekt die Mehrdeutigkeit von Freiheit. Was ist meine Freiheit wert, wenn ich sie dazu benutze, dich in deiner Freiheit zu verunsichern? Klar: Es gibt Grenzen der Ambiguitätstoleranz. Doch innerhalb dieser Grenzen geht es um den Prozess zwischen Menschen, die für sich selbst unterschiedliche Perspektiven haben und diese miteinander teilen dürfen. Helen verwies darüber hinaus auf, dass wir uns gegenseitig Raum geben sollten für den Prozess des Lernens – ohne uns zu sagen “Du bist nen Arschloch, du hast nix verändert.”