Wünschbares wahrscheinlicher machen: Zukunftsgestaltung als Dreiklang aus Utopien, Visionen und Handlung.
Als mein Vater sich vor einigen Jahren bei einem Arbeitsunfall das Bein brach, war die Diagnose erschütternd: Unklar, ob er jemals wieder normal laufen kann. Die Heilungszeit sei absolut unabsehbar, so diverse Ärzt*innen. Ein Jahr später sprachen eben diese von einer Wunderheilung. Was war geschehen? Kurz: Mein Vater war von Anfang an fest von der Möglichkeit überzeugt, wieder laufen zu können (Utopie). Er folgte einem klaren Zielbild, was tagtäglich zu tun sei, damit Schritt für Schritt wieder mehr Bewegung möglich ist (Vision). Und er erfreute sich an den Zwischenschritten, die ihn auf seinem Weg bestärkten (Reale Utopien). Mein Vater war oft nicht das Vorbild, das ich mir gewünscht hätte, doch in diesem Fall ist er für mich sogar ein Vorbild im größeren Maßstab: Eines für gesellschaftliche Heilung.
Der Beitrag ist später auch im Transform-Magazin erschienen.
Einführung: Utopie, Vision und reale Utopie
Dafür sehe ich die Notwendigkeit einer Wechselwirkung zwischen Utopie, Vision und handlungsmanifestierender, realer Utopie. Die Utopie ist dabei der unendliche Horizont, der große Wunsch, der Ort an dem es anders ist, als jetzt. Der Ort, an dem Probleme gelöst sind. Eine Welt, die läuft. Visionen streben mächtige Meilensteine an, sie sind die positive Formulierung des Zustands, der erreicht werden will. Für meinen Vater war es definitiv hilfreich seine Visionen mit Ärzt*innen abzugleichen – bei anderen Themen liegen andere Fach-Expert*innen näher. Reale Utopien sind die verwirklichten mächtigen Meilensteine, die real zeigen, was möglich sein könnte und diese Erfolge für andere erfahr- und erlebbar machen.
Verwirklichte Utopien basieren auf dem Dreiklang
Transformation, Revolution oder Heilung funktioniert am ehesten dann, wenn eine Gleichzeitigkeit dieser drei Elemente gegeben ist. Große, historische Transformationsprojekte basierten ebenfalls auf dem Wahnsinn etwas für potentiell möglich zu halten, das im hier und jetzt völlig absurd scheint. Ein paar Beispiele können nur andeuten, was damit in verschiedensten Ausprägungen gemeint sein könnte:
- Arbeiter*innenkämpfe vor über 100 Jahren basierten auf der Idee, dass ein besseres Leben für alle möglich ist, während die solidarische Organisation diversester Arbeiter*innen mit viel Hingabe durchgeführt wurde und dadurch eine Vielzahl von realpolitischen Erfolgen erzielt werden konnten.
- Der erfolgreiche Volksentscheid zum Nichtraucherschutz 2010 basierte auf einem jahrzehntelangen Prozess in der Wissenschaft und dessen Kommunikation. Immerhin wurde noch wenige Jahrzehnte früher behauptet, Rauchen könne sogar gut für die Gesundheit sein.
- Martin Luther King beschreibt seine Utopie, die später Realität wird: “I have a dream that one day on the red hills of Georgia, the sons of former slaves and the sons of former slave owners will be able to sit down together at the table of brotherhood.”
- Die scheinbar technologische Unmöglichkeit zum Mond zu fliegen, wurde nicht nur überwunden. Nebenbei entwickelten sich Strukturen, die später das Internet hervorbringen sollten.
- Ein flächendeckender Mindestlohn in Deutschland sorgte für größtmögliche Empörung. Das würde Millionen Arbeitsplätze kosten. Die Utopie der Linken wurde später tatsächlich von CDU/CSU und SPD umgesetzt. Vor kurzem erfolgte sogar eine Erhöhung, die nah an der ursprünglichen Forderung der Linken lag.
- …
Der Dreiklang führt zu Zukunftsgestaltung
Allen Krisen zum Trotz könnte an dieser Stelle für ein Zeitalter der verwirklichten Utopien argumentiert werden. Dabei droht jedoch ein Abrutschen in die gefährlichen Argumentationsmuster der Neo Optimisten mit ihrem Fortschrittsglauben. Fest steht: Utopien stehen als Türöffner für die essentielle Möglichkeit, dass sich wirklich etwas ändern kann. Solch ein Momentum der Möglichkeit ist genauso entscheidend, wie gefährlich:
- Scheinbar greifbare Wünsche nehmen aktuellen psychologischen Untersuchungen zufolge oft die Zukunft (gefühlt) vorweg und verschleiern, dass wir Energie aufwenden müssen, um die erwünschte Zukunft zu erreichen (siehe Oettingen et al.)
- Der Philosoph Karl Popper popularisierte im Kontext des real existierenden Sozialismus die Warnung vor DER totalitären Utopie bzw. dem Herausbilden einer geschlossenen Ideologie. Die Utopie endet, wenn sie als starres Zielbild benutzt wird oder Utopist*innen gar die alleinige Deutungshoheit darüber für sich beanspruchen.
- Eine vage, unrealistische Utopie kann für Einzelne reichen, ist aber für viele nicht anschlussfähig. Wird die Utopie zu konkret, schränkt das zu sehr ein bzw. läuft Gefahr von Sachzwängen vereinnahmt zu werden. Die Dialektik der Utopie verlangt nach fantastischer Abstraktion bei gleichzeitiger Hilfe aus der Realität.
Der Soziologe Michael Opielka sieht Utopien als Denkmöglichkeiten und Szenarien einer möglichen und wünschenswerten Zukunft. Damit sie zu einer wahrscheinlichen Zukunft werden können, müssen sie anschlussfähig an die Gegenwart werden. Ansonsten verlängert sich die Gegenwart in die Zukunft. Dem setze ich entgegen, dass Utopie weder Realität werden kann – noch es überhaupt soll. Utopien sind als Möglichkeitsgestaltung die Türöffner für Realgestaltung. Denn eine bessere Welt jenseits des utopischen Traumes bedarf immer zwangsläufig unserer darauf ausgerichteten Handlung. Entsprechend gilt:
Zukunftsgestaltung = Möglichkeitsgestaltung + Realgestaltung
Der handelsübliche Begriff für Realgestaltung wäre wohl Handlung. Und die ist per Definition – in Abgrenzung zum menschlichen (Alltags-)Verhalten – eine relativ bewusste Sache. Für’s teilbewusste Handeln helfen orienterungsstiftende Visionen ebenso wie Handlungen manifestierende reale Utopien. Sehen, dass etwas anderes möglich ist, eine (nicht immer) klare Vision und ein auf Erfolgserlebnissen basierendes, anstrengendes nach Vorne scheitern funktioniert als wunderbar im Kreis zu denkender Dreiklang.
“Real utopias capture the spirit of utopia but remain attentive
to what it takes to bring those aspirations to life”
Erik Olin Wright in real utopias
Tauge ich als Zukunftsgestalter*in?
Vor meiner Berliner Haustüre finde ich dutzende Beispiele, die ihren Visionen folgen und realutopische Erfolge vorweisen können. Ich habe 1,5 Jahre für das Social Impact Startup Kiezbett gearbeitet und schlafe inzwischen in einem solchen Bett, das einer komplett regionalen Wertschöpfungskette entspringt. Für Kiezbett habe ich eine Gemeinwohlbilanz erstellt, die dank der jahrelangen Arbeit von dutzender Gemeinwohl-Aktivist*innen, die Messung des Beitrags einer Organisation zum Gemeinwohl zu messen. In diesem Peer2Peer-Prozess habe ich Soulbottles kennengelernt, die als New Work-Vorreiter*innen nicht nur pure Inspiration für mich waren, sondern auch die beste Gemeinwohlbilanzierung ever erzielten. Schon 2015 hatte ich ein Vorstellungsgespräch bei Mein Grundeinkommen und datete im nächsten Jahr eine Gewinnerin des einjährigen, bedingungslosen Grundeinkommens, das der Verein inzwischen über tausend Personen verlosen konnte. Gerade schreibe ich an diesem Artikel, der auch im Transform-Magazin erscheint, welches auf dem Wunsch nach einem guten Leben für alle basiert. Mein Kontakt dort ist Marius, der die GSP eG Genossenschaft selbstverwalteter Projekte aufgebaut hat und dafür eben als Berlins sozialstes Unternehmen in der Kategorie Mensch von der Senatsverwaltung ausgezeichnet wurde. Mein Onkel Klaus hat über Jahre die Möckernkiez-Genossenschaft mit aufgebaut und wohnt jetzt im größten deutschen Genossenschaftsprojekt. Ilan, ein gemeinsamer Freund von Marius und mir, hat die letzten Jahre entscheidend zur Re-Demokratisierung durch geloste Bürgerräte beigetragen. Ich war eben erst auf der Vergesellschaftungskonferenz auf der 1.500 Aktivist*innen den Erfolg von “Deutsche Wohnen und Co enteignen” einerseits zelebrierten und andererseits weiter dachten.
So viel Hoffnung da draußen! Dennoch beobachte ich im Diskurs vor allem eine multiple Krisen-Dystopie. Und klar: die Welt ist bei weitem noch nicht gerettet. Doch die genannten Beispiele zeigen die vielfältigen Bemühungen gesellschaftlicher Veränderungen, die weit mehr als “nur” ein Bein heilen. Diese Projekte zeigen mir, dass Vieles, was unmöglich scheint, im Kleinen bereits Realität ist.
“Immer muss man darauf achten, dass die Möglichkeiten der Entfaltung des Einzelnen und die Möglichkeiten der demokratischen Beteiligung gestärkt werden.”
Erik Olin Wright in “Der Kommunismus ist machbar”
Solche realen Utopie zeigen, dass eine bessere Welt möglich ist, sie sind Reflektionsfläche darüber, wie weitere Schritte aussehen könnten und damit ein weiterer Türöffner für die eigene Weiterentwicklung, wie auch Inspiration für andere. Der Grand Seigneur der realen Utopien, Erik Olin Wright, plädiert für einen Shift in der Konfiguration der hybriden Macht-Beziehungen: Weg von der Dominanz von Staat und Ökonomie hin zu mehr sozialer Macht. Reale Utopien stärken demnach die soziale Macht, also die Mitbestimmung der Menschen über alles, was sie betrifft und das auf allen Ebenen von Gemeinde, Betrieb oder UNO.
Reale Utopien sind realisierte (kleine) Visionen, die in der Menge dazu führen, dass eine größere Vision wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, Wohnen in (demokratisieren) Genossenschaften, regionale Wertschöpfungsketten als Normalität oder institutionalisierte geloste Bürger*innenräte irgendwann möglich sind. Die Vision visualisiert ein beinahe greifbares Ziel und macht es dadurch wahrscheinlicher. Zukunftsforscher Max Priebe sieht die zentrale Aufgabe von Visionen darin, richtungsweisende Impulse, Inspiration und Motivation freizusetzen. Sie sind damit mehr der Handlung als der Auseinandersetzung mit der Zukunft verpflichtet, auch wenn das vielleicht als weniger spektakulär empfunden wird.
Visionäre führen im besten Fall die harte Arbeit von Utopist*innen, die ein Thema im Diskurs verankert haben und von Realutopist*innen, die konkrete Artefakte geschaffen haben, weiter. Entsprechend empfehle ich dringend Abstand von Pauschalkritik zu nehmen: Visionäre arbeiten zurecht an konkreten Plänen, Utopist*innen erträumen Möglichkeiten und Realutopist*innen schaffen Anschauungsmaterial. Alle drei sind in ihrer Wechselwirkung notwendig.
Als individuelle Zukunftsgestalter*in ist diese Gleichzeitigkeit definitiv nicht immer gleichzeitig zu stemmen. Ich empfehle deshalb:
- Wir sind aufeinander angewiesen. Seid solidarisch, solange soziale Macht ausgebaut werden soll. Teilt Wissen & hebelt Konkurrenzsituationen aus.
- Es braucht Zeit und (deine) Hartnäckigkeit. Die meisten Menschen überschätzen, was sie in einem Jahr schaffen können. Aber: Sie unterschätzen, was sie in fünf bis zehn Jahren schaffen können.
- Psycholog*innen bestätigen noch heute Schopenhauers “Der Mensch kann zwar tun was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.” Doch nur, weil der Wille nicht 100% bewusst kontrollierbar ist, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht teilbewusst Möglichkeitsräume für Wünschenswertes gestalten können.
- Der Fokus auf die eigene Gestaltungsmacht im Kleinen steigert den eigenen Einfluss perspektivisch. Eine Dichotomie der Kontrolle ist dabei nicht apolitisch, sondern fördert die eigene Agency durch Selbstwirksamkeit.
- Politik wird uns nicht retten. Es braucht also mehr als Forderungen, die sich als Wünsche verkleiden. Verzichtet auf Forderungen, sondern schafft Situationen, in denen euer Wunsch auch demokratisch zwangsläufig wird.
Utopienforscher Alexander Neupert-Doppler findet es albern, wenn man etwas fordert, ohne im Alltag das dafür getan zu haben, was nötig wäre. Was heißt das für mich? Ich sehe so viele Möglichkeiten. Doch meine Realgestaltung beschränkt sich aktuell vor allem auf dem Teilen von Wissen und der Anregung zum Denken. Ist das genug? Was ist genug? Was sind aktuell meine größten Handlungshemmnisse? Und wie überwinden wir diesen individualistischen Ansatz und werden kollektive Zukunftsgestalter*innen?