Womit den Tag verbringen, wenn die Welt brennt?

Dieser Text ist in Zusammenarbeit mit Claude entstanden – im Dialog zwischen meinen Gedanken und den Möglichkeiten eines KI-Modells, das bei der Strukturierung und Ausformulierung geholfen hat. Die Perspektiven sind meine, die Umsetzung ist gemeinschaftlich.


Die Polykrise ist da. Klimakollaps, demokratischer Rückbau, soziale Fragmentierung – wähle drei aus hundert. Die Frage, wie du als Einzelne*r darauf reagieren sollst, wird meist in zwei Richtungen beantwortet: Entweder mit produktiver Normalität (Familie, Job, Sport) oder mit destruktivem Eskapismus (Sucht, Ablenkung, Rückzug). Aber diese Gegenüberstellung verschleiert mehr, als sie erklärt.

Warum die Polykrise keine Metapher ist

Zunächst: Was macht die Polykrise eigentlich aus? Der Begriff bezeichnet nicht einfach das gleichzeitige Auftreten mehrerer Krisen. Er beschreibt deren gegenseitige Verstärkung, ihre systemische Verwobenheit. Klimawandel führt zu Migration, Migration wird zum Treibstoff autoritärer Bewegungen, diese untergraben demokratische Institutionen, was wiederum Klimaschutz verunmöglicht. Jede einzelne Krise wäre bereits eine historische Herausforderung. Ihre Gleichzeitigkeit und Verknüpfung erzeugt etwas qualitativ Neues.

Die Relevanz liegt in drei Dimensionen: Erstens die zeitliche Verdichtung. Die Klimakrise gibt einen nicht verhandelbaren Zeitrahmen vor – physikalische Kipppunkte sind keine politischen Kompromisse. Zweitens die systemische Überforderung. Institutionen, die für einzelne Krisen konzipiert wurden, versagen bei komplexen Wechselwirkungen. Drittens die psychische Dimension. Menschen sind nicht evolutionär darauf vorbereitet, mit multiplen, abstrakten, langfristigen Bedrohungen umzugehen, die gleichzeitig im Alltag allgegenwärtig und doch unsichtbar sind.

Ein Beispiel: Die Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 war nicht nur ein Wetterereignis. Sie offenbarte das Versagen von Frühwarnsystemen, die Zerstörung lokaler Strukturen durch jahrzehntelange Sparpolitik, die Unfähigkeit föderaler Systeme zur Koordination in Extremsituationen. Die Betroffenen standen nicht nur vor der Aufgabe des Wiederaufbaus, sondern vor der Erkenntnis, dass die Institutionen, auf die sie vertraut hatten, im Ernstfall nicht funktionieren. Das ist Polykrise: nicht nur das Ereignis selbst, sondern die Erschütterung des Vertrauens in die Bewältigungsfähigkeit des Systems.

Die Fiktion der richtigen Bewältigung

Wer definiert eigentlich, was „gute“ Bewältigung ist? Familie, Job, Sport – das klingt nach Mittelschichtsnormalität, nach einem Leben, das sich diese Normalität überhaupt leisten kann. Die Vorstellung, dass stabile Familienstrukturen, ein erfüllender Job und Fitnessstudio-Mitgliedschaft die angemessene Antwort auf systemische Krisen sind, offenbart bereits ein bestimmtes Klassenverständnis. Alleinerziehende in prekären Beschäftigungsverhältnissen haben keinen Zugang zu dieser Form der Stabilität. Queere Menschen, deren Familienkonzepte nicht der Norm entsprechen, werden in diesem Narrativ unsichtbar gemacht.

Die „schlechte“ Bewältigung – Sexsucht, Glücksspiel, Drogenkonsum – wird als moralisches Versagen gerahmt. Aber auch das greift zu kurz. Sucht ist Symptom, nicht Ursache. Sie ist eine Reaktion auf strukturelle Gewalt, auf Perspektivlosigkeit, auf die Unmöglichkeit, die eigene Situation zu verändern. Der Soziologe Didier Fassin spricht von „moral economies“ – Systemen, in denen bestimmte Verhaltensweisen als legitim oder illegitim markiert werden. Die moralische Hierarchisierung von Bewältigungsstrategien ist selbst Teil dieser Ökonomie: Sie individualisiert strukturelle Probleme und lenkt ab von den Verhältnissen, die Menschen überhaupt in diese Lagen bringen.

Die Realität: Irgendwo dazwischen

Empirisch betrachtet bewegen sich die meisten zwischen diesen Polen. Du versuchst, deinen Alltag aufrechtzuerhalten, während du gleichzeitig spürst, dass dieser Alltag auf brüchigem Grund steht. Du gehst zur Arbeit, kümmerst dich um deine Kinder, scrollst durch Social Media, konsumierst Nachrichten oder vermeidest sie bewusst, trinkst ein Glas Wein zu viel oder läufst einen Kilometer zu wenig.

Die Polykrise erzeugt eine spezifische Form der Erschöpfung: die Gleichzeitigkeit von Überforderung und Lähmung. Du weißt, dass etwas getan werden müsste, aber das „Etwas“ ist so groß, so abstrakt, so weit jenseits individueller Handlungsmacht, dass die Frage nach dem eigenen Tagesablauf absurd wirkt. Soll ich mich ehrenamtlich engagieren, während Permafrostböden auftauen? Soll ich Gemüse anbauen, während autoritäre Regime Wahlen manipulieren?

Die Psychologin Renee Lertzman beschreibt diesen Zustand als „environmental melancholia“ – eine Form der Trauer über ökologische Zerstörung, die nicht verarbeitet werden kann, weil die Zerstörung anhält. Diese Melancholie lässt sich auf die Polykrise insgesamt übertragen: Du trauerst um eine Zukunft, die nie Gegenwart wird, während die Gegenwart bereits unerträglich ist.

Die Falle des individuellen Fokus

Hier liegt das zentrale Problem: Die Frage „Womit sollte ich meinen Tag verbringen?“ unterstellt, dass individuelle Zeitverwendung eine adäquate Antwort auf systemische Krisen sein kann. Das ist sie nicht. Die Polykrise ist kein Aggregat individueller Fehlentscheidungen, sondern das Ergebnis struktureller Verhältnisse – kapitalistischer Verwertungslogik, fossiler Pfadabhängigkeiten, kolonialer Kontinuitäten.

Natürlich macht es einen Unterschied, ob du deine Zeit mit sinnvoller Tätigkeit oder destruktivem Eskapismus verbringst. Aber dieser Unterschied ist vor allem für dich persönlich relevant, nicht für die Lösung der Krisen. Die Fokussierung auf individuelles Verhalten – ob „gut“ oder „schlecht“ – verschiebt den Blick weg von den notwendigen kollektiven und strukturellen Veränderungen.

Konzerne wie Shell wussten seit den 1980er Jahren von der Klimakrise und finanzierten gezielt Desinformationskampagnen. Regierungen subventionieren bis heute fossile Energien mit hunderten Milliarden jährlich. Das sind politische Entscheidungen, keine Summen individueller Konsumfehler. Wenn dir die Verantwortung für diese strukturellen Prozesse individuell zugeschoben wird, ist das keine Ermächtigung, sondern eine Form der Machtlosigmachung.

Handlungsoptionen jenseits des Alltags

Gleichzeitig wäre es zynisch zu behaupten, dass individuelles Handeln irrelevant ist. Die Frage ist: Welche Formen der Praxis gehen über die Aufrechterhaltung des Normalen hinaus, ohne in heroischem Aktivismus zu enden, der binnen Monaten im Burnout mündet?

Politische Organisierung statt atomisierter Selbstoptimierung. Das kann Gewerkschaftsarbeit sein, Mieterinitiativen, Klimagruppen. Entscheidend ist die kollektive Dimension. Nicht als Einzelne*r versuchen, die Welt zu retten, sondern Teil einer Struktur werden, die Handlungsmacht herstellt. Die Organisierung bei Amazon-Standorten in den USA zeigt: Selbst in scheinbar aussichtslosen Situationen können Beschäftigte durch kollektives Handeln Machtverhältnisse verschieben. Das ist kein Nebenher-Projekt für Sonntagabende, sondern erfordert Zeit, Energie, Kontinuität – aber es schafft auch Handlungsfähigkeit, die individuelles Tun nie erreichen kann.

Infrastrukturen der Solidarität aufbauen. Gemeinschaftsgärten sind mehr als Symbolpolitik, wenn sie zu Orten werden, an denen Menschen lernen, gemeinsam zu wirtschaften und Krisen zu bewältigen. Nachbarschaftsnetzwerke, die bei Hitzewellen nach älteren Menschen schauen, Care-Strukturen, die Sorgearbeit kollektivieren. Das sind keine revolutionären Akte, aber sie schaffen Widerstandsfähigkeit und alternative Praktiken zu Marktlogik und Staat. Die griechischen Solidaritätskliniken während der Eurokrise haben gezeigt, wie zivilgesellschaftliche Strukturen Funktionen übernehmen können, die der Staat aufgibt.

Direkte Aktion und ziviler Ungehorsam. Die Besetzung von Lützerath, die Blockaden der Letzten Generation, die Sabotage von SUV-Reifen – diese Formen des Protests polarisieren nicht zufällig. Sie durchbrechen die Normalität, zwingen zur Positionierung, machen Widersprüche sichtbar. Sie sind riskant, rechtlich prekär, emotional fordernd. Aber sie stellen die Frage: Was ist eigentlich legitim in einer Situation, in der legales Handeln systematisch versagt? Die Juristin Cornelia Vismann argumentierte, dass Recht und Legitimität auseinanderfallen können. Ziviler Ungehorsam operiert genau in dieser Lücke.

Subversion der eigenen Position. Wenn du in einer Institution arbeitest, die Teil des Problems ist – und das tun die meisten von uns –, gibt es Spielräume der Verweigerung, der Sabotage, des Leaks. Whistleblower*innen bei Öl- und Rüstungskonzernen, Mitarbeitende in Behörden, die Abschiebungen verzögern, Angestellte in Medien, die kritische Perspektiven einschleusen. Das sind keine heroischen Gesten, sondern oft kleine, riskante Entscheidungen. Der Anthropologe David Graeber nannte das „bureaucratic revolution from within“ – die Idee, dass Systeme auch durch interne Reibung verändert werden können.

Radikale Transparenz und Wissensweitergabe. Die Polykrise wird auch durch Komplexität und Intransparenz stabilisiert. Wer verstehbar macht, wie Lieferketten funktionieren, wie Finanzströme verlaufen, wie Lobbyismus operiert, schafft Voraussetzungen für Eingriffe. Open-Source-Bewegungen, investigativer Journalismus, politische Bildungsarbeit – das sind keine glamourösen Tätigkeiten, aber sie verschieben Machtverhältnisse, indem sie Wissen demokratisieren.

Zwischen Ohnmacht und Handlungsfähigkeit

Diese Optionen sind keine Patentlösungen. Sie sind riskant, anstrengend, oft frustrierend. Politische Organisierung bedeutet Konflikte, Kompromisse, Niederlagen. Solidarische Infrastrukturen können instrumentalisiert werden, um staatliche Rückzüge zu legitimieren. Direkte Aktionen können repressiv beantwortet werden. Subversion kann zur Entlassung führen. Transparenz kann missbraucht werden.

Aber sie haben eines gemeinsam: Sie akzeptieren nicht die Alternativlosigkeit des Bestehenden. Sie gehen davon aus, dass die Verhältnisse veränderbar sind, auch wenn der Weg unklar ist. Sie schaffen Räume, in denen du nicht nur Objekt der Krisen bist, sondern handelndes Subjekt. Das ist keine Garantie für Erfolg, aber ein Unterschied zu der Resignation, die der individualisierte Alltag nahelegt.

Eskapismus als Symptom verstehen

Destruktive Bewältigungsstrategien sind keine moralischen Defekte, sondern Indikatoren für strukturelle Gewalt. Wenn Menschen in Sucht flüchten, zeigt das nicht ihre Schwäche, sondern die Unerträglichkeit ihrer Lebensrealität. Die Polykrise verschärft diese Dynamiken: prekäre Arbeit, soziale Isolation, Perspektivlosigkeit treiben Menschen in Bewältigungsformen, die kurzfristig Erleichterung versprechen und langfristig zerstörerisch sind.

Der Psychiater Gabor Maté argumentiert, dass Sucht im Kern die Antwort auf emotionalen Schmerz ist, der anders nicht auszuhalten ist. Die Polykrise erzeugt kollektiven Schmerz – die Erfahrung, dass die Zukunft gestohlen wurde, dass die Gegenwart bereits unerträglich ist. Statt moralischer Verurteilung braucht es materielle Unterstützung, zugängliche psychosoziale Versorgung, strukturelle Veränderungen. Die Frage ist nicht, warum Menschen „falsche“ Entscheidungen treffen, sondern welche Bedingungen sie überhaupt in diese Lage bringen.

Die Produktivität der Normalität hinterfragen

Aber auch die „gute“ Bewältigung – Familie, Job, Sport – ist nicht unschuldig. Sie kann zur Strategie werden, sich der Konfrontation mit der Krise zu entziehen. Die Konzentration auf den eigenen Mikrokosmos, das Funktionieren im System, die Aufrechterhaltung des Gewohnten – das alles kann auch Verdrängung sein. Wer sich in Arbeit stürzt, hat keine Zeit für politische Fragen. Wer sich auf Familie konzentriert, kann die Perspektive auf die eigenen Kinder verengen, statt solidarisch zu denken.

Die Kritische Theorie hat dieses Phänomen als „repressive Entsublimierung“ beschrieben – die Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse verhindert die Entwicklung eines Bewusstseins für umfassendere Zusammenhänge. Dein Yoga-Kurs mag dir helfen, den Arbeitsstress zu bewältigen. Aber er lässt auch die Frage verschwinden, warum die Arbeit überhaupt so stresst, welche Verhältnisse das erzeugen, wie sie zu ändern wären.

Die Polykrise stellt keine einfachen Fragen und liefert keine fertigen Antworten. Sie verlangt von dir nicht, den perfekten Tagesablauf zu finden, sondern eine Position zu entwickeln – zu den Verhältnissen, zur eigenen Rolle darin, zu den Möglichkeiten kollektiver Veränderung. Die Handlungsoptionen jenseits des Alltags sind keine Erlösung, aber sie sind Risse im Bestehenden, Momente, in denen spürbar wird, dass es auch anders sein könnte. Vielleicht ist das schon genug: nicht zu wissen, wie der ideale Tag aussieht, aber zu wissen, dass dieser Tag erkämpft werden muss.

Blogadmin, kritischer Zukunftsforscher und Realutopist. Mehr über den Blogansatz unter dem Menüpunkt Philosophie.

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