Überreichtum: Warum die Kritik an Milliardären gerade Fahrt aufnimmt

Dieser Text ist eine Co-Produktion von Jonas Drechsel und Claude. Die Recherche, Strukturierung und argumentative Ausarbeitung entstanden im Dialog zwischen menschlicher Zukunftsforschungs-Expertise und KI-gestützter Textproduktion.

Es gibt Momente, in denen sich die gesellschaftliche Stimmung verdichtet. Als Zukunftsforscher beobachte ich gerade einen solchen Moment: Die Kritik an Milliardären wird lauter, sichtbarer, selbstbewusster. Das ist kein diffuses Bauchgefühl, sondern lässt sich an konkreten Signalen ablesen.

Da ist Sebastian Klein, ehemaliger Private-Banking-Berater, der 2024 mit „Toxisch reich“ ein Buch über die Abgehobenheit der Superreichen schreibt und damit auf überraschend offene Ohren stößt. Da sind die Oxfam-Berichte, die Jahr für Jahr zeigen, wie obszön die Vermögenskonzentration geworden ist, und die mittlerweile nicht mehr nur in aktivistischen Kreisen zirkulieren. Da ist Gabriel Zucman, der für die G20 einen konkreten Plan für eine globale Milliardärssteuer vorlegt. Da ist die Bewegung der „Patriotic Millionaires“, die öffentlich fordert: „Besteuert uns endlich!“ Und da ist eine junge Generation, die auf TikTok und Instagram die Bunker-Fantasien von Tech-Milliardären belächelt und deren vermeintliche „Philanthropie“ als PR-Maßnahme entlarvt.

Diese Signale verdichten sich zu einem Muster. Milliardäre waren schon immer ein Problem, aber gerade jetzt gerät ihre gesellschaftliche Legitimation ins Wanken. Die Frage ist, ob daraus mehr wird als ein Stimmungsbild.

Was ist Überreichtum überhaupt?

Überreichtum beginnt dort, wo Vermögen aufhört, der individuellen Existenzsicherung oder auch luxuriösen Lebensführung zu dienen, und anfängt, strukturelle Macht zu verleihen. Die Grenze ist nicht exakt zu ziehen, aber ab etwa zehn Millionen Euro Nettovermögen, spätestens ab hundert Millionen, reden wir nicht mehr über „Wohlstand“, sondern über eine andere Kategorie.

Überreichtum hat vier Dimensionen. Quantitativ übersteigt er materielle Bedürfnisse um ein Vielfaches. Ein Milliardär könnte jeden Tag 27.000 Euro ausgeben, 100 Jahre lang, ohne pleite zu gehen. Das ist keine Lebensführung mehr, sondern Akkumulation als Selbstzweck. Strukturell ermöglicht Überreichtum, politische und wirtschaftliche Machtverhältnisse zu verzerren. Wer Stiftungen gründet, Medien kauft oder Parteien finanziert, beeinflusst demokratische Prozesse nicht durch Argumente, sondern durch Ressourcen. Relational erzeugt Überreichtum eine demokratiegefährdende Asymmetrie. Wenn eine Person mehr Vermögen besitzt als die untere Hälfte der Bevölkerung zusammen, ist das keine Ungleichheit mehr, sondern Klassenherrschaft. Systemisch entsteht Überreichtum nicht durch individuelle Leistung, sondern durch Ausbeutung, Rentenextraktion und extreme Vermögenskonzentration. Kein Mensch kann eine Milliarde „erarbeiten“. Man kann sie nur durch die Arbeit anderer akkumulieren.

Klassismus: Die unterschätzte Dimension

Wenn wir über Überreichtum reden, reden wir über Klasse. Superreiche bilden eine eigene soziale Klasse mit spezifischem Habitus, die sich durch Gated Communities, Privatjets und exklusive Netzwerke von der Mehrheitsgesellschaft abtrennt.

Diese Trennung ist nicht nur räumlich, sondern auch symbolisch. Sie geht einher mit Verachtung, wenn Milliardäre über „normale Menschen“ reden wie über eine fremde Spezies. Sie geht einher mit Unsichtbarmachung, wenn Lieferdienst-Fahrer:innen und Pfleger:innen während der Pandemie als „systemrelevant“ beklatscht werden, ihre Löhne aber kaum steigen. Sie geht einher mit Demütigung, wenn Menschen sich für ihre Herkunft schämen müssen oder als „white trash“ stigmatisiert werden.

Der Soziologe Pierre Bourdieu hat gezeigt, dass Klasse nicht nur eine Frage von Geld ist, sondern auch von kulturellem und sozialem Kapital. Superreiche haben nicht einfach „mehr Geld“, sie verfügen über Zugänge, Codes und Netzwerke, die sich vererben und reproduzieren. Die Ideologie der „Leistungsgesellschaft“ verschleiert diese Mechanismen, als ob Jeff Bezos eine Million Mal härter arbeiten würde als eine Krankenpflegerin.

Klassismus wirkt nie isoliert. Er verschränkt sich mit Rassismus, wenn migrantische Arbeiter:innen systematisch in prekären Jobs landen. Er verschränkt sich mit Sexismus, wenn Frauen überdurchschnittlich in schlecht bezahlter Care-Arbeit arbeiten. Deshalb geht es nicht nur um Vermögensumverteilung, sondern um die Frage: Wie schaffen wir eine Gesellschaft, in der niemand aufgrund seiner Klassenherkunft beschämt, unsichtbar gemacht oder von Entscheidungen ausgeschlossen wird?

Die Zahlen: Wie obszön die Konzentration wirklich ist

Die Vermögenskonzentration hat ein Ausmaß erreicht, das sich kaum noch in Worte fassen lässt. Zahlen helfen, die Dimension zu begreifen.

Global betrachtet besitzt das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung 45 Prozent des gesamten Vermögens. Die reichsten zehn Prozent halten 76 Prozent. Die ärmere Hälfte der Menschheit, also 3,8 Milliarden Menschen, besitzt zusammen gerade einmal zwei Prozent. Diese Schere öffnet sich weiter: Während der Pandemie wuchs das Vermögen von Milliardären um 3,9 Billionen Dollar, während 160 Millionen Menschen zusätzlich in Armut fielen.

In Deutschland ist die Situation nicht weniger drastisch. Das reichste eine Prozent besitzt über ein Drittel des Gesamtvermögens. Die reichsten zehn Prozent halten etwa 60 Prozent. Die untere Hälfte der Bevölkerung besitzt zusammen nur 2,5 Prozent des Vermögens oder ist sogar verschuldet. Der Gini-Koeffizient für Vermögen liegt bei 0,8, einer der höchsten Werte unter entwickelten Volkswirtschaften.

Dynastische Strukturen verschärfen das Problem. Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung zeigt: Etwa 30 Prozent der Forbes-400-Milliardäre haben ihr Vermögen geerbt oder sind Erben von Unternehmensdynastien. In Deutschland dominieren alte Industriefamilien von Quandt über Albrecht bis Reimann die Reichenlisten. Vermögen konzentriert sich nicht nur, es vererbt sich. Die Erbschaftsteuer in Deutschland ist so konstruiert, dass Betriebsvermögen weitgehend verschont bleibt.

Steuervermeidung ist systematisch. Das EU Tax Observatory beziffert entgangene Steuereinnahmen durch Offshore-Konstrukte auf jährlich 10 Milliarden Euro allein in Deutschland, global auf über 400 Milliarden. Superreiche nutzen legale Schlupflöcher: Stiftungen, die gleichzeitig Vermögen schützen und als philanthropisch gelten. Holdingstrukturen in Niedrigsteuerländern. Briefkastenfirmen, die Eigentum verschleiern. Das Ergebnis: Effektive Steuersätze für Milliardäre liegen oft unter denen von Normalverdiener:innen.

Ökologisch ist Überreichtum destruktiv. Das reichste eine Prozent verursacht so viele CO₂-Emissionen wie die ärmsten zwei Drittel der Menschheit zusammen. Privatjets, Superyachten, mehrere Wohnungen sind keine harmlosen Luxusgüter. Eine einzige Fahrt mit einer Superyacht erzeugt mehr Emissionen als eine durchschnittliche Person im Jahr. Während alle von „Verzicht“ reden sollen, leben Milliardäre in einer Parallelwelt der Verschwendung.

Politisch konzentriert sich Einfluss. Studien zeigen: Je reicher jemand ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass persönliche Netzwerke zu Regierungsmitgliedern, Parteispitzen oder Wirtschaftseliten bestehen. Das Max-Planck-Institut dokumentiert, wie Superreiche systematisch Lobbyismus betreiben, nicht durch offene Korruption, sondern durch legale Mechanismen wie Parteispenden, Stiftungen und Think-Tank-Finanzierung.

Warum jetzt? Drei Gründe für zunehmende Kritik

Erstens: Die Illusion ist geplatzt. Die Erzählung, dass Milliardäre „Job Creators“ und Innovatoren seien, die uns allen nützen, zieht nicht mehr. Zu offensichtlich ist, dass Amazon-Lagermitarbeiter:innen in die Plastikflasche pinkeln müssen, während Bezos Weltraumausflüge macht. Zu offensichtlich ist, dass Tech-Milliardäre ihre Steuerlast durch komplexe Konstrukte minimieren, während Normalverdiener:innen jeden Euro versteuern. Zu offensichtlich ist, dass philanthropische Stiftungen oft PR-Instrumente sind, die demokratisch nicht legitimierte Agenden durchsetzen.

Zweitens: Die Klimakrise macht Überreichtum moralisch untragbar. Wenn jedes Zehntelgrad zählt, wenn wir über „persönliche CO₂-Budgets“ und „Flugscham“ diskutieren, während Milliardäre mit Privatjets zum Klimagipfel fliegen, wird die Heuchelei sichtbar. Die ökologische Zerstörung durch Überreichtum ist nicht mehr zu übersehen.

Drittens: Die Bunker-Fantasien offenbaren die Absurdität. Douglas Rushkoff beschreibt, wie Tech-Milliardäre sich über Fluchtstrategien für den Kollaps beraten, nicht darüber, wie man ihn verhindert. Sie investieren in individuelle Abschottung statt in gesellschaftliche Resilienz. Die Soziologin Teresa Caldeira nennt das „fortified enclaves“, befestigte Enklaven, die physisch und symbolisch von der Gesellschaft getrennt sind. Diese Isolation ist nicht nur geografisch, sondern auch psychisch: Madeline Levine zeigt, dass Kinder von Superreichen überdurchschnittlich unter Depressionen und Angststörungen leiden. Reichtum isoliert.

Was Überreichtum mit Demokratie macht

Überreichtum ist nicht nur unfair, er untergräbt demokratische Strukturen. Wer über extreme Ressourcen verfügt, kann Lobbyismus betreiben, Medien kaufen, Think Tanks finanzieren und politische Kampagnen sponsern. Das Ergebnis: Politik wird nicht mehr von Argumenten geleitet, sondern von Interessen derjenigen, die sich Einfluss leisten können.

Dabei geht es nicht nur um konkrete Policies, sondern um die Verschiebung dessen, was als politisch denkbar gilt. Wenn Milliardäre Universitäten finanzieren, beeinflussen sie, welche Forschung gefördert wird. Wenn sie Medien besitzen, bestimmen sie, welche Themen auf die Agenda kommen. Wenn sie Denkfabriken unterstützen, prägen sie den politischen Diskurs.

Das Problem ist nicht, dass einzelne Milliardäre böse Menschen sind. Das Problem ist strukturell: Eine Gesellschaft, in der wenige Menschen über so viel Macht verfügen, ist keine Demokratie mehr, sondern eine Oligarchie.

Zukünfte gestalten, Gegenmacht aufbauen

Der Stimmungswandel gegenüber Milliardären ist real, aber er reicht nicht. Stimmungen sind volatil. Sie können sich in Empörung erschöpfen oder von der nächsten Krise überlagert werden. Politische Veränderungen brauchen mehr: Organisation, Strategie, Ausdauer.

Wir im Youngk-Kollektiv starten deshalb das Projekt „Zukünfte ohne Überreichtum“, nicht als Wunschdenken, sondern als Zukunftsforschung. Wir fragen: Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, in der extreme Vermögenskonzentration nicht mehr existiert? Welche Wirtschaftsformen, welche Steuerungsmechanismen, welche kulturellen Praktiken würden das ermöglichen? Und vor allem: Welche Wege führen dorthin?

Diese Fragen sind nicht abstrakt. Sie sind politisch brisant, weil sie das Fundament des Status quo infrage stellen. Und sie sind methodisch anspruchsvoll, weil es nicht um Prognosen geht, sondern um Möglichkeitsräume. Zukunftsforschung heißt nicht vorhersagen, was kommt, sondern durchspielen, was kommen könnte, wenn wir anders entscheiden.

Gleichzeitig braucht es Gegenmacht. Die Signale, die ich eingangs beschrieben habe, sind ermutigend, aber sie müssen sich verdichten. Das bedeutet: Das Thema Überreichtum muss weiter auf die Agenda, in den öffentlichen Diskurs, in politische Programme. Es braucht Bündnisse zwischen Gewerkschaften, Klimabewegung, sozialen Bewegungen. Es braucht Narrative, die klar machen: Überreichtum ist kein Schicksal, sondern ein politisches Produkt und deshalb veränderbar.

Die Legitimation von Milliardären bröckelt. Jetzt kommt es darauf an, das Momentum zu nutzen, Zukünfte zu entwerfen, die zeigen: Eine Welt ohne Überreichtum ist nicht nur gerecht, sondern auch lebenswert. Und jetzt kommt es darauf an, die Macht zu organisieren, die es braucht, um diese Zukünfte real werden zu lassen.

Blogadmin, kritischer Zukunftsforscher und Realutopist. Mehr über den Blogansatz unter dem Menüpunkt Philosophie.

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