Auf ein Wort #6: Moralischer Totalitarismus
Man könnte “moralischen Totalitarismus” einfach als Kampfbegriff von Rechts gegen Menschen mit Moral, so wie Gutmensch oder Identitätspolitik, abtun. Doch ist es wirklich so einfach? Der folgende Text zeichnet die bisherige Diskussion rund um den moralischen Totalitarismus ausschnittartig nach. Bei dem Versuch einer Einordnung wird klar, wie die beiden Seiten sich an unterschiedlichen Fragen abarbeiten, die, gemeinsam gedacht, sich durchaus gegenseitig befruchten könnten.
“Auf ein Wort” kann und darf eine Reihe von Texten werden, die sich verschiedenen Begriffen annähert. Einerseits Begriffe, die ich schön & wichtig finde, aber vergleichsweise unterrepräsentiert verwendet sehe. Andererseits solche, die sehr viel, mit sehr wenig Kontext, benutzt werden. #6 entstand auch wieder mit der wunderbaren Julia Wallner als Wort-Pingpong-Partnerin.
Begriff wurde vor ein paar Jahren im Kontext von #Metoo und Feminismus heiß
Thea Dorn geht davon aus, dass es die eine Moral nicht gibt: „Eine totalitäre moralische Ideologie leugnet den schönen, alten Kant-Satz: Dass der Mensch aus einem krummen Holz geschnitzt ist und sich deshalb nicht gänzlich Gerades daraus zimmern lässt.“ Sie behauptet: In der Debatte rund um #MeToo werde versucht, eine solche Moral „zu inthronisieren“, die „das Krumme, das in uns ist“ leugne und stattdessen versuche, einen „neuen Menschen“ zu schaffen. Machst du alles richtig oder handelst du moralisch verwerflich?
Ihr späterer Gegenspieler Georg Diez hatte sich u.a. mit einer Kritik im Spiegel für die Diskussion in Stellung gebracht. Er wies dort auf einen Diskussionsbeitrag rund um Kevin Spacey hin. Der Autor der FAZ schreibt dort, Spacey wird mit einer moralischen Keule basierend auf bloßem Hörensagen abverurteilt. Diez verweist darauf, dass der Autor selbst weiteres, Spacey belastendes Material (das zu dem Zeitpunkt längst bekannt war) weglässt, weil es nicht in sein Argumentationsmuster passt. Darunter fallen knapp ein dutzend Anschuldigungen aus den letzten Jahrzehnten.
Angesprochen auf einen Satz der Journalistin Laura Himmelreich, die die Abschaffung des Sexismus darin sieht, all das „zu beseitigen, was zu Machtungleichheit führt“, sagte Thea Dorn: Dieser Satz sei entweder „lächerlich“ oder „hochgradig gefährlich“. Sie erkenne darin das Projekt eines „neuen Menschen“ wieder, das historisch – von der französischen Revolution bis zum Kommunismus und Nationalsozialismus – immer gescheitert sei. Eine Gesellschaft ohne Machtungleichheit sei eine „gelähmte“ Gesellschaft, die Forderung danach sei „absurd“. Stattdessen müsse es darum gehen, „Macht sinnvoll einzuhegen“. Ich behaupte: Das würden eigentlich fast alle unterschreiben. Warum Aussagen gegen einen uneingehegten Sexismus gleich die “neue Mensch”-Keule nach sich zieht, erschließt sich mir dagegen weniger. Ist Weiterentwicklung nicht ok?
Die entscheidende Frage für eine Zivilgesellschaft sei, wo die Grenze zwischen Eigenverantwortung und staatlicher (juristischer, polizeilicher) Intervention verlaufe. Dorn vertritt die Ansicht, dass erst eingeschritten werden müsse, wenn es sich um Verbrechen handele und „brutale sexuelle Übergriffe“ vorlägen. Ein „schiefer Blick“, zweideutige Bemerkungen oder „Grabschen“ fielen hingegen nicht unter diese Kategorien. „Eine erwachsene Frau muss sich dessen bitte erwehren können! Wie will die denn sonst durch die Welt kommen?“ Diez nennt das eine privilegierte Position von einer, die es kann. Meine mögliche Folgerung aus Dorns Argumenten wäre, dass man(n) es mit den nicht wehrhaften schon machen könnte. Ist Kritik daran moralischer Totalitarismus?
Margarete Stokowski greift moralischen Totalitarismus auf
Flaßpöhler kritisiert Auswüchse von #MeToo als jenseits von Rechtsstaatlichkeit
Für Svenja Flaßpöhler hat sich Feminismus in eine Opferrolle hineingetwittert, dabei befinden wir uns nicht mehr im Patriarchat, sondern in einer extrem vielschichtigen Übergangsphase. Und darin sind Frauen Teil des Problems. Die Philosophin fordert, dass auch Frauen eine kritische Distanz zu sich selbst einnehmen, anstatt nur #MeToo zu tippen und auf den Mann zu zeigen.
“Wir haben ganz bestimmte Verhaltensweisen inkorporiert in den Jahrhunderten des Patriarchats: Passivität, Gefallsucht, Minderwertigkeitsgefühle. Das führt dazu, dass wir uns auch in Situationen, in denen wir die Möglichkeit hätten, autonom zu handeln, genau das oft nicht tun. Wenn mich ein Vorgesetzter fragt, ob ich mit ihm auf einem Hotelzimmer ein Bewerbungsgespräch führe, kann ich selbstverständlich ganz souverän sagen: Nein, danke. Wenn dann eingewendet wird: Ja, aber dann kriegt die Frau doch den Job nicht! Dann muss ich sagen: Ja, das ist Autotomie.”
Svenja Flaßpöhler in “Hören Sie auf, Sie beleidigen uns!”
Das ist ein spannender Punkt. Was Frauen bisher anerzogen wurde, ist es keine Stimme zu haben. “Nein” zu sagen in einer absoluten Druck-Situation ist da nicht selbstverständlich – eher das Gegenteil davon. Für mich wird hier immer deutlicher, wie Fragen auf zwei Ebenen diskutiert werden:
Frage 1:
Wie finde ich meine / wir unsere Stimme als Frauen im Patriarchat? (Nicht mehr alleine und vereinzelt)
Frage 2:
Wieso sind nicht alle Frauen so wehrhaft wie ich und benutzen ihre Stimme?
Für Flaßpöhler und Dorn stellt sich vor allem Frage 2 Flaßpöhler sieht die Sensibilisierung als Form des Anerkennungs-Kampfs aus Frage 1 kritisch, wenn sie eine Opfer-Kultur in Form eines moralischen Totalitarismus zementiert, anstatt zu Frage 2 überzugehen. Dem würde ist gewissermaßen zustimmen, jedoch würde ich mir, anstatt nach unten zu treten, doch eher Hilfestellung wünschen: Wie gehen denn die Türen zu Frage 2 auf? Da hilft es zu verstehen, was andere aus welchen Gründen nicht können.
Stattdessen dreht sich Flaßpöhler lieber um sich selbst, in dem sie eine Art “von vornherein”-Ausgrenzung bestimmter (ihrer) Positionen aus dem öffentlichen Diskurs beklagt. Außerdem begibt sich Flaßpöhler in eine Opferrolle für die sie weniger privilegierte Opfer kritisiert: Ich als weiße, heterosexuelle Frau in einer Führungsposition habe in bestimmten Themenkomplexen ganz schlechte Karten. Flaßpöhler benutzt also ihre Stimme und bezeichnet den Kampf um eine eigene, ihren Positionen widersprechende Stimme als moralischen Totalitarismus. Auch wenn eben jener Kampf manchmal nicht gerade sanft vonstatten geht ist das feinste Doppelmoral der Philosophie, sagt doch die Starke, was Gefühle sind, die nicht diskursfähig sind.
Beispiel Corona-Impfung
A: Wirst du dich impfen lassen?
B: Ja, bin ich sogar schon.
A: Bist du denn bescheuert? All die Nebenwirkungen? Es geht ja sogar das Gerücht um, dass die Mückenplage diesen Sommer nur für die Impfung gezüchtet wurde
B: Das ist ja totaler Quatsch. Wir haben eine moralische Verantwortung. Sich nicht impfen zu lassen ist unsolidarisch. Für mich ist klar: Wer sich unter den aktuellen Umständen nicht impfen lässt, ist ein schlechter Mensch.
Solche Diskussionen mit Fokus auf die Extreme gingen in ähnlicher Form in 2021 ständig ab. Ein moralischer Totalitarismus hat etwas beidseitiges und erzählt die Geschichte der Polarisierung anhand von Moral neu. Dabei geht es um Argumentation jenseits von Argumenten, sondern mit Moralkeule. Die Weltsicht bestimmt, was richtig und was falsch ist. Sonderfälle gibt es nicht. Ich habe total recht – was in meinem speziellen Fall natürlich auch stimmt ;-))
Den rein rationalen Raum gibt es nicht
Rechte / Querdenker sagen so etwas, wie im Magazin Cicero, die mit Rückbezug auf Flaßpöhler schreiben: „Wenn an die Stelle von Argumenten Gefühle treten, ist an Diskutieren nicht zu denken.“ Hat sich nicht langsam rumgesprochen, dass Argumente und Gefühle nicht voneinander zu trennen sind? Hier gilt es, wie Eingangs von Dietz mit Bezug auf Spacey angemerkt, den aktuellen Wissenstand nicht zu leugnen: Das Gehirn funktioniert nicht nach links-rechts-Schema, sondern interagiert miteinander.
Wenn also Flaßpöhler die Standpunkttheorie kritisiert und die reflexive Auseinandersetzung der Betroffenen mit sich selbst einfordert, ist das zwar nicht grundsätzlich von der Hand zu weisen, verleugnet jedoch das Existenzielle, das die Diskurse für die jeweiligen Menschen beinhaltet: “Und noch ein Satz zur Standpunkttheorie: Es ist ja gerade notwendig, dass am Diskurs auch Menschen teilnehmen, die nicht unmittelbar betroffen sind. Sie haben nämlich den Vorteil, sich aus der eigenen Betroffenheit nicht herauslösen zu müssen und vielleicht Aspekte zu sehen, die Betroffene nicht sehen. Deshalb würde ich sagen: Die Betroffenenperspektive kann extrem bereichernd sein für einen Diskurs. Aber sie kann auch in krudesten Narzissmus münden, weil man alles auf sich bezieht.”
Schmerz-Reproduzierende und grundlegend falsche Thesen der Machtinhaber*innern verhindert einen Ausgangspunkt für solche Gespräche. Wie das anders umgesetzt werden kann, zeigt zum Beispiel das Format 13 Fragen vom ZDF. Einen Hoffnungsschimmer liefert mir diese Aussage von Flaßpöhler: “Der moralische Totalitarismus resultiert aus einem vermeintlichen Humanismus. Eben einer Sensibilität für die Unterdrückung der eigenen Gruppe oder die Unterdrückung anderer Gruppen. Das unterscheidet die linksliberale Elite oder auch linke Studierende von Nazis oder von Burschenschaften.”
Die reine Lehre gibt es auch nicht
Der Umgang mit Künstlern wie Michael Jackson zeigt unsere Unfähigkeit, Ambivalenz auszuhalten, so Flaßpöhler. Menschlich mag Jackson schrecklich gewesen sein, aber er war doch dennoch ein großer Künstler. Ich frage mich, was es mit Opfern sexueller Gewalt macht, wenn sie Michael Jackson im Radio hören? Da stehen wir wohl noch relativ am Anfang der Diskussion.
Moral ist wichtig im Leben, aber andere Menschen sind es auch. Ich möchte mit einem Appell für die liberale Ironikerin enden, mit der Verhältnisse wie in der schein-kommunistischen Sowjetunion verhindert werden könnten. Bei diesem Ansatz ist sich Mensch der kontingenten Beliebigkeit von Sprache, Hoffnungen, Überzeugungen und anderen Erklärungen bewusst, dabei aber bereit für den aktuellen Stand des eigenen Wissens / der eigenen Moral dennoch einzustehen. Das gemeinsame Ziel ist es Grausamkeit zu verringern. Deshalb versteht Richard Rortys jeweilige liberale Ironikerin ihre Aufgabe darin, ihr Wissen über andere oder neue Vokabulare stets aufzubessern. Die gemeinsame Sprachgrundlage dient der Annäherung. Eine Solidarität, die auf dem universalen Wunsch basiert, nicht gedemütigt werden zu wollen, nur weil der jeweilige Mensch andere Vorstellungen über das Leben hat, rückt in den Mittelpunkt von Gesellschaft. Demütigung kann am ehesten vermieden werden, wenn man so ironisch ggü. sich selbst bzw. dem eigenen Verständnis ist, dass man versucht, jede andere Meinung zu verstehen, um zu vermeiden, dass man den anderen verletzt bzw. demütigt. Geschieht Grausamkeit doch, soll das Erlebte in Worte gefasst und dadurch erkennbar gemacht werden. Eine liberale Ironikerin begreift sich als Mitglied diverser, distinktionsfördernder Communitys, grenzt sich aber gleichzeitig von ihnen ab, um nicht der Versuchung eines dogmatischen Sprachsystems im Sinne des moralischen Totalitarismus zu erliegen.
Die liberale Ironikerin ist sich der Unfertigkeit aller Antworten bewusst, kann aber dank einem ausgeprägten moralischen Kompass dennoch gut von schlecht unterscheiden. Svenja Flaßpöhler argumentiert alles aus ihrer Position, darf das auch, wie ich finde, gerät aber dann an die Grenzen, wenn sie die Sichtbrille auf andere Menschen und Lebensweisen verliert. Dann gibt sie nur mehr ihren rational gut argumentieren Senf dazu, der aber für andere grausam sein kann. Dann wundert sie sich, warum Betroffene sie attackieren, deren Perspektive sie nicht empathisch nachvollzieht. Die eigene (unvollständige) Rationalität wird so zum Eigentor.
Diez betonte die Notwendigkeit, die Extrempositionen zwischen Wehrhaftigkeit der Frauen und der Säuberung von allen möglichen Bedrohungen nicht in den Mittelpunkt zu rücken. Das spannende passiere in den Grauzonen. Man könnte Flaßpöhler also gutmütig unterstellen, dass es auch darum geht, nicht nur die Männer für ihre Taten zu blamen, weil die Frauen auch Verantwortung für sich haben. Aber ohne eigene Stimme wird das nüscht.