Drei Grundprinzipien für meine Selbstständigkeit: Geld verdienen, Zeit haben und Wirksam sein

Es fühlt sich ganz selbstverständlich an: Ich bin einer von vielen Millionen Menschen, die sich freiberuflich oder selbstständig verwirklichen wollen. Die damit angestrebte, extrem vielschichtige Freiheit in der Arbeit und der damit einhergehenden Lebensführung hat jedoch auch Schattenseiten. Diese sind mit den gelernten “old normal”-Mustern der auf Festanstellung basierten 40h/Woche oft schwierig zu bewältigen, was auch in meinem näheren Umfeld immer wieder zu regen Diskussionen führt – teils rein schon um das Verständnis der Probleme. Ich möchte mich hiermit nicht als Sprecher aller Freiberufler*innen positionieren, sondern komme über die Selbstoffenbarung von drei Grundprinzipien, die sich bei mir in über zehn Jahre hartem Selbstständigkeits-Struggle herauskristallisiert haben. Gleichzeitig ist es eine Manifestation meines Dreiklangs aus Wirksamkeit, Zeit und Geld, den ich immer wieder aufs Neue auszubalancieren gedenke. 

Prekäre Verhältnisse basieren auf Unausgewogenheit 

Ich möchte gerne prekäre Lebensumstände verhindern – und wer möchte das nicht? Prekariat als soziologischer Begriff setzt sich aus prekär und Proletarier zusammen. Kurz: Der von Unsicherheit bedrohte Arbeiter, der sich abstrampelt, aber nie so richtig auf einen grünen Zweig kommt. Das kenne ich ein Stück weit von meinen Arbeiter-Eltern. 

Inzwischen bin ich in der privilegierten Position, ein Wissensarbeiter zu sein. Als Zukunftsforscher mit Masterabschluss und zehn Jahren Arbeitserfahrung in nachgefragten Bereichen, stehen mir theoretisch karrieremäßig einige Türen offen. Das Problem: Die Wirksamkeit meiner Arbeit steht bei mir an oberster Stelle. Als Zukunftsforscher arbeite ich daran, dass wünschbare Zukünfte wahrscheinlicher werden – und das ist oft nicht das, was am “Markt” nachgefragt wird – einfach, weil dieses Wünschbare für die meisten auch eine Veränderung der bestehenden Verhältnisse beinhalten würde und wir seit Jahrzehnten eingehämmert bekommen, dass diese alternativlos seien. Als junger Bachelorand wollte ich Social Media Kommunikation so entwickeln, dass wert(e)volle Marken entstehen und nicht nur noch mehr Wachstum erzielt wird. Oder ich wollte im Anschluss als Startupper einen Mindesttagessatz für Freelancer etablieren, anstatt mich an Rocket Internet zu verkaufen, nur weil wir mit einem Hype-Thema etwas Aufmerksamkeit auf uns lenken konnten. 

Ich bin es also gewohnt, für meine Sache einzustehen und dafür (finanziell) zu leiden. Ich bin zwar nach klassischer Definition kein Teil des Prekariats, aber lebe dennoch die meiste Zeit meines Lebens in finanziell prekären Verhältnissen. Um das ganze zu verkomplizieren, kommt für mich neben dem Bedürfnis nach Sinn und Wirksamkeit auch noch das nach Zeit hinzu. Zeit für mich, für Ruhe, Reflektion und / oder freie Projekte wie diesen Blog. Das ist frech, ich weiß. Doch ich habe zu viele Aktivist*innen ausbrennen sehen, weil sie nur noch für ihre Sache lebten und dabei zu oft, wohl aus Gründen der Selbstüberzeugung, dogmatisch werden. Es ist für mich keine Option, sehr viel Zeit in die gute Sache zu investieren, um damit finanziell passabel über die Runden zu kommen und dafür eine zeitliche Dimension des Prekären zu begünstigen. Was heißt das jetzt? Was ist mein Zugang zu den drei Dimensionen? Worauf kommt es mir an, wie will ich an dem Gleichgewicht arbeiten? 

“Geld verdienen” als Notwendigkeit im Kapitalismus

Eine der berühmtesten Studien über Geld besagt, dass Menschen tendenziell bis zur Summe von 75.000 Dollar einen Zugewinn an emotionalem Wohlbefinden erfahren. Bis dahin wird also die Häufigkeit und Intensität der Erfahrungen von Freude, Stress, Traurigkeit, Wut und Zuneigung, die das eigene Leben angenehm oder unangenehm machen, positiv beeinflusst. Danach nicht. Also möchte ich auch nicht mehr anstreben. Vielleicht nicht mal das Maximum, denn diese Studie aus dem Jahr 2010 ist ein Überblick über die untersuchten Menschen, ein Durchschnittswert – und für mich eher eine Orientierung, die ich mit einem Blick in mein Inneres in Einklang bringen möchte. 

Das gesagt, möchte ich darauf hinweisen, dass die Freiheit, die Geld verschafft, zwar nicht von der Hand zu weisen ist, jedoch halte ich es im Gegensatz zu einer neoliberal-kapitalistischen (FDP-)Perspektive für essentiell, Freiheit über individuelle Karrierewege hinaus zu denken. Entsprechend war es bisher bei mir oft eher umgekehrt: Ich habe meine inneren Freiheits-Bedürfnisse nach freier Zeit und guter Sache so hoch gewichtet, dass ich der Notwendigkeit des Geldverdienens nicht immer hinreichend nachging (siehe dazu auch einen meiner ersten Beiträge auf diesem Blog).

2023 habe ich für mich einen Plan erstellt, der aus einem Mix aus gebuchten Tagen, Tagessatz und Cashflow bzw. Reserven besteht. Diese drei Faktoren sind für mich als Freiberufler / Selbstständiger entscheidend für eine Grundsicherheit im Leben und damit einhergehender Gesundheit, der Möglichkeit auch mal durchzuatmen oder NEIN sagen zu können. Diesen Mix habe ich bisher nie so richtig hinbekommen. Das lag weniger an meinem Tagessatz oder am Cashflow, sondern an der Anzahl der verkauften Tage. 

Ich brauche im Durchschnitt mindestens fünf gebuchte Tage im Monat (maximal zehn, dazu im Kapitel Zeit mehr). Das klingt im Paradigma des “old normal”-Festangestelltenverhältnis nach wenig effektiver Arbeit. Doch dabei wird vergessen, dass ich als Selbständiger für Akquise, Verwaltung und permanente Weiterbildung – die Care Arbeit der Wissensarbeiter*innen – nicht bezahlt werden. Außerdem sind die Tage üblicherweise nicht an einem Stück abzuarbeiten, sodass die erste Woche für Lohnarbeit reserviert und der Rest des Monats dann frei einteilbar wäre. Im Gegenteil: Ein Tag wird üblicherweise als acht Arbeitsstunden verstanden, die teils über mehrere Wochen verteilt, gerne auch mal spontan, abgerufen werden. Mein Bruder hat aus Gründen der Effizienz seiner Arbeit als Freelancer den Arbeitstag auf sieben Stunden verkürzt: “Wenn ich sehe, wie Menschen im Büro den halben Tag nicht arbeiten… wenn ich mich ransetze, dann bin ich 2-3h wirklich konzentriert und schaffe oft mehr, als normale Angestellte über nen ganzen Tag.”

Dazu gibt es drei weitere Aspekte, die ich im Kontext von Geld und Selbstständigkeit nur kurz anreißen möchte: 

1. Umgang mit Unsicherheit: Biete ich die richtigen Services an? Wann kommt der nächste größere Auftrag? Was, wenn mir in 3-x Monaten das Geld ausgeht? Kann ich mir jetzt überhaupt eine Anschaffung erlauben oder sollte ich das Geld lieber auf die Seite legen? 

2. Höhe des Tagessatzes: Ein Bekannter erzählte mir neulich, dass bei den letzten Verhandlungen darüber immer direkt zugesagt wurde. Er verkauft sich offensichtlich unter Wert. Doch was bin ich wert? Bin ich schon so weit, den Tagessatz zu erhöhen oder bin ich ganz selbstverständlich überall seniorig, wenn ich etwas mache? Das Pendel zwischen Imposter-Syndrom und Hybris schlägt bei Freiberuflern gerne mal wild hin und her. 

3. Ausgaben und Steuern: Das deutsche Gesetz ist so angelegt, dass mittelerfolgreiche Selbstständige ab ca. 20.000€-75.000€ Jahresumsatz zum Konsum angeregt werden, um den Gewinn zu senken. Rücklagen für die Steuer, ja – aber lieber nicht für mögliche Cashflow-Lücken. Hierzu gibt es auch die Theorie, dass Solo-Selbstständige die unabhängigste Kraft im Staat sein könnten. 

“Geld verdienen” ist für mich kein Selbstzweck und im Dreiklang mit Zeit und Wirksamkeit bisher immer der unwichtigste Faktor gewesen – wohl ein Grund, warum ich mit dem Thema vielleicht auch regelmäßig zu struggeln hatte. Der Versuch wäre deshalb, “Geld verdienen” so in meinen Lebensentwurf zu integrieren, dass es in einer gewissen Standardisierung erfolgt, ohne viel Aufmerksamkeit und Energie zu ziehen. Solange die zu verkaufenden Tage für das nächste Quartal noch nicht feststehen, ist hier immer eine gewisse Priorität angebracht. Nur so kann ich “Geld verdienen” mit den beiden folgenden Punkte in Einklang bringen, ohne dass der Punkt zu kurz kommt.

Zeit für Leben stärkt Output / Zeiteinsatz

Zeit haben bzw. Zeit nehmen ist einer DER Punkte für ein erfülltes Leben in einer Gesellschaft, die der renommierte Soziologe Hartmut Rosa als beschleunigt analysiert. Vereinfacht gesagt, haben wir uns Systeme gebaut, in denen Technologie den sozialen Wandel und damit das Lebenstempo beschleunigt. Wir finden kaum einen Ausweg, wollen wir das persönliche Wachstum doch ständig mit den wachsenden Möglichkeiten der Selbstverwirklichung in Einklang bringen. Selbstkonzeptionen der busyness sind in der Blase der Selbstverwirklicher*innen Usus: Selbstverwirklichung wird als Vollzeit-Lebensaufgabe verstanden. 

“Ich hätte eigentlich am Wochenende arbeiten müssen. Aber da war ich einfach KO.”
(Zitat eines Solo-selbstständigen Freundes)

Dort wo so vieles möglich scheint, kann kaum mehr etwas richtig erfahren werden. Rosa spricht hier von verlorener Resonanzfähigkeit, wenn Mensch beispielsweise in drei Wochen 12 Urlaubs-Stops macht und sich die Erfahrung jeweils eher auf ein schnell geschossenes Foto von der Golden Gate Bridge beschränkt. Aber hey, Hauptsache New York auch gemacht. Entspricht dem Tempo von New Work!

Diese andauernden Diskurse um Work-Life-Balance und die daran angeschlossenen, noch hipperen Buzzwords… Ich möchte das lieber nicht. Ich suche nach einer “Leben im Kapitalismus”-Balance. Denn das richtige Leben im falschen System ist zwar nie vollständig möglich, aber auch keinesfalls unmöglich. Adorno verweist selbst darauf, dass wir uns den Sinn für das Richtige nicht nehmen lassen dürfen. Und das Richtige besteht für mich offensichtlich darin, Zeit für das Richtige zu haben. Also erstmal überlegen, was das Richtige für mich sein könnte. Hinschauen. Auseinandersetzen. Verantwortung übernehmen und nichts als gegeben nehmen, nur weil sich Vieles als naheliegend anbietet. Machen ja alle so.

Eine der wichtigsten Dimensionen von Freiheit ist es für mich, Zeit für das zu haben, was ich gerne tue. Dazu gehört eine erfüllende Lohnarbeit als wichtiger Baustein, die aber keinesfalls das Zentrum meines Lebens bilden soll. Dieser besteht aus Beziehungen zu Menschen, dem Anschieben von Gutem auf der Welt und der Neugierde für Neues. Oder einfach mal an einem sonnigen Nachmittag zwei Stunden Kaffeepause in der Sonne zu machen, ohne dann gleich zwangsläufig eine Nachtschicht einlegen zu müssen. 

Natürlich, und das ist das kapitalistische Argument, führt diese Art von Zeit für sich selbst, zu einer besseren Performance in der Arbeit. Freizeit, ein erfülltes Leben, Ausgeglichenheit und Achtsamkeit, die dadurch gestärkte Neugierde für Neues, freiwillige Weiterbildung, ordentlich Schlaf und all diese Faktoren sorgen für effizientere, kreativere und umsichtigere Entscheidungen. Damit ist Zeit auch ein Argument für einen höheren Tagessatz und für weniger Arbeitsstunden pro Tag. 

Zum Zeit-Thema gehört aber auch die Fähigkeit, Zeit mit sich auszuhalten: Was mache ich denn, wenn ich nix konkretes zu tun habe? Wie kann ich in mich blicken, auch mal unzufrieden sein und erforschen, was mein Leben gerade noch bereichern würde? 

Persönlichkeitsentwicklung entsteht aus einem guten Mix aus positivem Stress und Ruhe, kombiniert mit der Möglichkeit zur Introspektive. Das ist für mich eindeutig eine Frage des alltäglichen und kann nicht mit 2-3 Erlebnissurlauben schnell noch erledigt werden. 

Wirksamkeit: Qualität bedeutet, dass sich Dinge strukturell verbessern

Die vielzitierten, alten Griechen wurden von Silicon Valley-Evangelisten in der Sache der Dichotomie der Kontrolle zuletzt vielfach missgedeutet: Sie begünstige eine Wirksamkeit zur Rettung der Welt durch Technologie. Das ist zugleich falsch und richtig. Es ist richtig, dass Menschen mithilfe der Dichotomie der Kontrolle erlernen können, sich auf das zu konzentrieren, worauf sie aktuell Einfluss haben können (und sich nicht an Unerreichbarem abarbeiten bzw. gar nie mit etwas anzufangen). Damit erhöht Mensch seinen Einfluss in dieser Sache sukzessive. Falsch ist der Part mit der Technologie als Weltenretter – siehe unter anderem Rosas Akzelerationszirkel, den ich oben angeführt habe. Oder wieso kommen all die technologischen Effizienzgewinne nicht im Alltag von den Menschen an und warum steht die Welt mit dem Klimawandel vor der möglicherweise größten Krise aller Zeiten? 

Die Selbstwirksamkeit, die ich mit dem Verfolgen eines guten Zieles – ein faires Freelancernetzwerk mit Mindesttagessatz – verfolgte, bescherte mir nach viel harter Arbeit auf einmal finanzielle Freiheit für eine gewisse Zeit. Diese setzte ich nicht ein, um mit Tesla-Aktien oder Bitcoin reich zu werden, sondern investierte in meine Weiterbildung. Ich wurde Zukunftsforscher und öffnete damit Türen des Denkens für mich, die für mich mit meiner Herkunft keinesfalls vorherbestimmt waren. Als Zukunftsforscher und Persönlichkeit, die ich inzwischen bin, hören mir Menschen und Organisationen eher zu, wenn es darum geht, wie sie Zukunft gestalten sollen. Passenderweise habe ich auch genau dazu meine Masterarbeit geschrieben. Was ich auf der Welt hinterlassen will, ist ein kleiner Beitrag dazu, dass sie weiter existiert – und vielleicht sogar auf eine etwas bessere Art und Weise. 

“Qualität” ist erstmal nur gute Arbeit in der Sache. Der Sachzwang kann dann auch sein, an einer Atombombe mitzuarbeiten. Oder etwas kleiner: Die Kleinen mit Werbung zum Konsum von noch mehr Kinder-Schokolade motivieren. Die gute Sache ist oft die, die nicht überall nachgefragt wird: Ich möchte keine Wachstums-Jobs, keine Bullshit-Projekte und Kunden. Ich möchte an Strukturen mitwirken, die sich nicht nur als zukunftsfähig bezeichnen, sondern auch einem entsprechenden Qualitätscheck standhalten. Dafür suche ich schon seit langem nach den passenden Hebeln, um meine Tage mit Services und Produkten zu verkaufen, die dazu beitragen und eben nicht nur meinen Geldbeutel füllen. Das geht nachhaltig am Besten, wenn der eigene Überlebenskampf nicht im Vordergrund steht. Es geht mir hier um die Dimension der Freiheit, die es mir erlaubt, Gutes zu tun. Ohne wenn und aber.

Fazit: Niemand hat gesagt, dass das Paradies einfach zu erreichen ist

Das Leben ist hart und wird im ersten Schritt nicht leichter, wenn ich selbst Verantwortung für meine Entscheidungen übernehme. Meinen Entscheidungen folgend, suche ich konsequent nach dem Sweet Spot zwischen Geld, Zeit und Wirksamkeit. Das ist natürlich ein Prozess in Bewegung:  

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Die Wunschvorstellung ist die: Ich verdiene konstant gutes Geld mit relativ hohen Tagessätzen und liefere dabei Qualität, die sich insbesondere dadurch auszeichnet, “das Richtige” zu tun. Dabei hilft mir die Zeit, die ich mir für mich nehme, beim Abliefern hoher Qualität und erlaubt mir, in Wechselwirkung mit ausreichend finanziellen Ressourcen und sich herausbildenden, Selbstwirksamkeit verdeutlichenden Strukturen, ein erfülltes Leben. 

Blogadmin, kritischer Zukunftsforscher und Realutopist. Mehr über den Blogansatz unter dem Menüpunkt Philosophie.

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