Zukunftsdenken in Zeiten von Corona: 6 Ansätze
“Was machst du eigentlich als Zukunftsforscher?” Kaum eine Frage höre ich in letzter Zeit so oft. Die Antwort ist nicht ganz einfach. Denn während “Zukunft” eines der Buzzwords unserer heutigen Zeit ist, fristet die universitäre Disziplin der Zukunftsforschung aus diversen Gründen eher ein Nischendasein. Als ob mir das nicht genug wäre, habe ich mir innerhalb dieser Nische nochmals eine Nische herausgepickt: die kritische Zukunftsforschung. Diese hinterfragt Zukunftsdenken. Welche Grundannahmen stecken dahinter? Welche Glaubenssätze werden als gesetzt genommen? Wie könnten sich Perspektiven verändern, wenn ein paar dieser Setzungen wieder in Frage gestellt werden?
Als kritischer Zukunftsforscher, der auch viel Liebe für die Gestaltung hat, schaue ich gespannt auf das, was gerade passiert. Auf die Gedanken, die sich Menschen machen. Welchen Pfadabhängigkeiten sie dabei folgen. In diesem kleine Beitrag zeige ich sieben Möglichen von Zukunftsdenken in Zeiten von Corona – nur innerhalb Deutschlands – werfe einen eher oberflächlichen Blick auf den Hintergrund der denkenden Person und stelle Thesen zu möglichen, zugrundeliegenden Pfadabhängigkeiten auf.
Prognos: Corona wird keine Auswirkungen auf Deutschland haben
Das Zukunftsdenken: “Unsere Berechnungen zeigen, dass auch in einem solchen Worst-Case-Szenario die Konjunktur in Deutschland kaum belastet würde” prognostizierten die ExpertInnen von Prognos bereits am 31.1.2020. Das Dokument wurde später gelöscht – aber wir wissen ja, dass das Internet nicht vergisst.
Über Prognos: Wie der Name schon sagt. Prognos steht für Prognosen. Seit 1959 berät das Unternehmen Wirtschaft und Politik mit ihren Prognosen. Das heißt sie sammeln vorliegende Daten aus der Gegenwart und schreiben diese Entwicklungen fort, um damit Orientierungswissen zu bieten.
Mögliche Pfadabhängigkeiten: Für Prognos ist es wohl normal aktuell erhebbare Informationen zu Prognosen zu verarbeiten. Eine schnelle Einschätzung als Beruhigungspille der eigenen KundInnen kommt möglicherweise gut an. “Leute, kein Grund zur Panik. Ihr könnt einfach weitermachen wie immer.” Wir lieben diese Botschaft, oder? Prognos steht eindeutig für die Fortschreibung und Wiederherstellung der alten Ordnung, in der sich nichts gravierendes verändert. Entsprechend können diese Prognosen gelesen werden als etwas, das nützliche Orientierung für kurzfristig denkende Marktteilnehmende sein kann.
Kritik an diesem Zukunftsdenken:
- Da Zukunft nach Grunwald nicht gewusst werden kann, ergeben sich alternative Entwicklungsmöglichkeiten. Dies wird von Prognos nicht berücksichtigt.
- Außerdem kritisch anzumerken ist, dass die (grundsätzlich vorliegende) Unvollständigkeit der Daten nicht kommuniziert wurde.
- Auch scheint eine Pandemie weit weniger für zuverlässige Prognosen geeignet, als zum Beispiel seit Jahrzehnten bekannte Krankheitserreger wie die handelsübliche Grippe. Alles ungewöhnliche, auf besonderen Ereignissen basierende, ist mit Mitteln der Fortschreibung des bisher Bekannten eher schwierig zu prognostizieren.
Horx: Corona ist die Chance und danach wird alles gut sein
Das Zukunftsdenken: Der Text “Die Welt nach Corona” betont die Chancen der Krise und stiftet damit Hoffnung, dass in dieser schwierigen Zeit nicht alles schlecht ist. Horx zeigt die Welt, wie sie nach Corona sein wird.
Horx gibt den geläuterten Trend-Guru, der nun die Vision für sich entdeckt hat. Tatsächlich ist das von ihm gegründete Zukunftsinstitut berühmt-berüchtigt in Deutschland. Kaum wer, der sich Zukunftsforscher nennt, hat deutsches Zukunftsdenken so sehr geprägt, wie er.
Mögliche Pfadabhängigkeiten: Bei Horx ist die Alternativlosigkeit der etablierte Verkaufsschlager: Seine Zukunft ist immer aus einer eher selbstherrlichen, wissenden Perspektive formuliert. Damit hat er sich über jahrzehnte zum gefragten Experten hochgepushed. Bei Horx gibts nie Alternativen, sondern nur seine, richtige Sicht – früher waren das Megatrends, heute ist das DIE Utopie.
Kritik an diesem Zukunftsdenken:
- Gepredigte Alternativlosigkeit hemmt den offenen Diskurs und ggf. auch die Notwendigkeit zu handeln
- Horx gepredigte Zukunft erweist sich im Nachhinein meist als falsch. Der Klassiker: “Das Internet wird kein Massenmedium – weil es in seiner Seele keines ist.”
- Man könnte meinen, dass Horx auf dem Macht-Auge blind ist
- Er führt das fancy Wort “Re-Gnose” ein, obwohl es schon Backcasting als stehenden Begriff dafür gibt.
Soulbottles: Normatives herbeifantasieren einer unausweichlichen Transformation
Das Zukunftsdenken: Corona stellt die perfekte Chance für eine wünschbare Veränderung dar: “Der Stillstand durch Corona gibt uns die einmalige Chance eines Neustart-Buttons für das ökonomische, politische und ökologische System, in dem wir leben”
Über Soulbottles: Soulbottles ist ein Social Impact Startup verkauft mit Glas-, und neuerdings Edelstahl-Flaschen, relativ simple Produkte. Das besondere des Unternehmens ist also eher die eigene Haltung – sie nennen es Soul OS. Ein Betriebssystem, das sich unter anderem aus Holocracy, Gewaltfreier Kommunikation und der Mitgründung der Purpose Stiftung auszeichnet. Der Text ist geschrieben von Clara Bütow, die u.a. PR-Rolle bei Soulbottles einnimmt. Sie ist die jüngste der angeführten ZukunftsdenkerInnen und definitiv als Typ “Aktivistin” zu bezeichnen.
Mögliche Pfadabhängigkeiten: Aus dieser Position heraus argumentiert der Text sehr stark im Sinne des Unternehmens und der Autorin. Ein differenzierterer Blick auf mögliche Zukünfte fehlt. Stattdessen wird die bereits vorher existierende Position einer wünschbaren, nachhaltigeren Zukunft gestärkt bzw. darauf hingewiesen, dass Corona die Hoffnung darauf erhöht.
Kritik an diesem Zukunftsdenken: Grundsätzlich habe ich große Sympathie für die hier beschriebenen Positionen, die teils sehr positiv daherkommen. Mir fehlt jedoch das Bewusstsein für den Aushandlungsprozess verschiedener Player. Polarisierend könnte man den Text wie die Forderung nach einer Ökodiktatur lesen.
Ich sehe eine Gap zwischen dem was kommen “muss” und individueller Handlung. Ein Schüler Rosas hat schön sein Resonanz-Konzept mit der Suffizienztheorie gematched. Die zentrale Erkenntnis: Veränderung muss durchhaltbar sein. Es braucht ziehende Zukunftsbilder und Utopien, was aber nicht heißt alles zu hart zu kritisieren, was noch nicht perfekt ist. Es gibt ja Gründe, warum die Gegenwart so ist, wie sie ist.
Grunwald: “Wir sind keine Zukunftsforscher, wir machen auch keine Prognosen”
Das Zukunftsdenken: Mit seiner Kernaussage “Unser Ansatz ist, mögliche plausible und möglichst wahrscheinliche Zukünfte zu entwerfen” liegt Grunwald genau auf der Linie universitärer Zukunftsforschung. Spannend, dass er behauptet, das wäre keine Zukunftsforschung bzw. ein starker Drang vorherrscht, sich von Prognostikern abzugrenzen.
Über Grunwald: Grunwald hat mit dem Text “Wovon ist die Zukunftsforschung eine Wissenschaft” so etwas wie den Grundlagentext der heutigen, deutschen, wissenschaftlichen Zukunftsforschung geschrieben. Der studierte Physiker und Philosoph ist leitet seit Oktober 1999 die größte Einrichtung für Technikfolgenabschätzung in Deutschland und weltweit, das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe und seit 2002 auch die parlamentarische TA-Einrichtung Deutschlands, das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB). 2007 übernahm er außerdem den Lehrstuhl für Technikphilosophie und Technikethik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) (Quelle: Wikipedia).
Grunwalds mögliche Pfadabhängigkeiten: Er spricht als transdisziplinärer Wissenschaftler und Vorsitzender mehrerer Institutionen, die sich vom herrschenden Diskurs um positivistisch berechenbare Zukunft wissenschaftlich abgrenzen möchten. Er steht für einen Versuch der Differenzierung und der Reflexion der Gegenwart.
Kritik an diesem Zukunftsdenken: Grunwald argumentiert gefühlt aus einer Position der Schwäche, indem er sein Zukunftsdenken nicht als Zukunftsforschung bezeichnet. Möglicherweise wäre es hilfreich Grunwald der kritischen Zukunftsforschung zuzuordnen, die eher einer Zukunftswissenschaft entspricht – in der überlegt wird, wie wir mit Hilfe von Theorien und Methoden über Zukunft nachdenken.
Janszkys strategisch-operationalisierbare Szenarien
Das Zukunftsdenken: Dieser Text beinhaltet Alternativen von Best bis Worst Case. Eigentlich will Janszky “wissenschaftliche” Prognosen entwerfen, was im Moment seiner Auffassung nach gerade nicht geht, weil seinen Ansprechpartner aus der Wirtschaft gerade das Zukunftswissen fehlt, um für Interviews zur Verfügung zu stehen. Deshalb entwickelt er fünf Szenarien, über die er schreibt: “Sie sind nicht mehr als ein „educated guess” eines Zukunftsforschers und Strategieberaters, der aus hunderten Zukunftsstrategien in der Wirtschaft weiß, dass die wirkliche Zukunft niemals aus apokalyptischer Angst oder rosaroter Utopie entsteht, sondern aus strategisch-operationalisierbaren Szenarien.”
Janszky ist Geschäftsführer des 2b AHEAD ThinkTank, Zukunftsforscher, Strategieberater und Keynotespeaker. Kurz: Er ist ganz nah dran an den Entscheidungsträgern aus Wirtschaft und Politik und zeigt das auch überall stolz.
Entsprechend argumentiert Janszky tendenziell immer in den alten Pfadabhängigkeiten der vorherrschenden Systeme. Seine Alternativen sind in der Logik des Marktes, ganz im Sinne von Friedrich August von Hayek, gedacht. Sie dienen dazu die alte, neoliberale Ordnung zu erhalten.
Kritik an diesem Zukunftsdenken: Ganz im Sinne des Buches “Wie viel Mensch verträgt die Zukunft?” (vom Kauf wird dringend abgeraten) argumentiert Janszky, was jetzt getan werden muss, damit es der Wirtschaft auch in Zukunft gut geht. Dafür hat er vielerlei Szenarien parat, die jedoch mit einer Alternative geizen: Die Menschen in den Mittelpunkt von Zukunftsdenken zu stellen.
Kuster: #CoronaalsChance
Das Zukunftsdenken: “COVID-19: Ein Ausnahmezustand als Schnittmenge von Realitäten? Eine dystopische Wildcard als Stein des Anstoßes gesellschaftlicher – gar utopischer – Transformation?” Er betont die Offenheit der Zukunft und lädt ein Möglichkeits-Träume zu erfinden. Link: https://corona-futures.de/
Lukas Kuster promoviert gerade beim, neben Grunwald, wohl einflussreichsten, wissenschaftsorientierten Zukunftsforscher Harald Welzer. Seine Forschung stellt auf der Seite der Uni Flensburg folgende Fragen: “Denn in was für einer Zukunft wollen wir / willst Du eigentlich leben? Was müsste sich dafür ändern? Und was müsste bleiben wie es ist? Es ist wichtig mit anderen darüber zu sprechen und gemeinsam zu überlegen, wie die Zukunft aussehen könnte. Das Nachdenken über Zukunft ist jedoch schwierig.”
Mögliche Pfadabhängigkeiten: Als freies Projekt das wegen Corona gestartet wurde, sind die Restriktionen vermutlich vor allem Ressourcenseitig zu finden. Auch könnte ein Clash zwischen Einreichungen und wissenschaftlichem Werdegang entstehen.
Kritik an diesem Zukunftsdenken: Den Open Call kann ich soweit nicht kritisieren – sonst hätte ich nicht selbst mitgemacht. Die verschiedenen Einreichungen werden mit Sicherheit wieder diverse Ansätze von Zukunftsdenken widerspiegeln.
Meine (ein-)gebildete Meinung
Es ist ganz schön kräzy, wie unterschiedlich die Menschen über Zukunft nachdenken. So viele Blasen. Dieser Beitrag hat nur ein paar aufgegriffen. Für mich stellt sich da schon die Frage, wie wir all diese Perspektiven in einen gesellschaftlich-demokratischen Aushandlungsprozess gießen können? Oder sind die Position teils zu konträr?
Während der letzten Wochen habe ich “Die Entstehung des Neuen” des Wissenschaftshistorikers Thomas Kuhn gelesen – und kann’s auch weiterempfehlen ;-). Wenn sich dem Buch folgend in den Zukünfte-Forschungen noch keine überlegene Theorie-Tradition herauskristallisiert hat – davon würde ich aktuell ausgehen – ist eine junge Disziplin auf die (Weiter-)Entwicklung qualitativer Denktraditionen angewiesen, um Neues anzustoßen. Hat mich für meine Masterarbeit nochmal zusätzlich motiviert 😉