Auf ein Wort #4: Zukünfte

Von Zukünften zu sprechen heißt eine Abkehr von der ungesunden Vorstellung, die Zukunft stünde schon fest. Es heißt sich gegenwärtiger Vorstellungen möglicher Zukünfte bewusst zu werden, sie um weitere Aspekte jenseits der eigenen Biases und blinden Flecken anzureichern. Und entsprechend danach zu handeln. Denn Zukünfte ist das Wort, das anzeigt, dass Welt menschengemacht ist – und wir lernen können. Diese Blogreihe ist das beste Beispiel für die Offenheit von Zukunft, setzt sie sich doch mit meinen ehemaligen Zukunftsvorstellungen auseinander, sowieso keinen passablen Text hinzubekommen. 

“Auf ein Wort” kann und darf eine Reihe von Texten werden, die sich verschiedenen Begriffen annähert. Einerseits Begriffe, die ich schön & wichtig finde, aber vergleichsweise unterrepräsentiert verwendet sehe. Andererseits solche, die sehr viel, mit sehr wenig Kontext, benutzt werden. #4 entstand auch wieder mit der wunderbaren Julia Wallner als Wort-Pingpong-Partnerin. 

Zukunftsvorstellungen bisher

Eine eindeutige Vorstellung davon, was Zukunft ist, gab es wohl noch nie. Sie ist, passenderweise, im Wandel begriffen. In der Steinzeit war der Zukunftshorizont durch permanenten Überlebenskampf reduziert auf maximal einige Tage. Im Mittelalter sorgte in unseren Regionen die Kirche dafür, dass die Menschen dachten eine himmlische Zukunft wartet auf sie – jenseits des eigenen Lebens. Es galt heute zu funktionieren, um später belohnt zu werden. 

Im Kapitalismus heißt die Zukunft Rente und bis dahin gilt es abzuliefern. Ergänzt wird dieses Zukunftskonzept durch individuelle Glücksmaximierung im abgesteckten Rahmen von Job, Haus, Auto, Familie und Urlaub. Auf gesellschaftlicher Ebene sollen abstrakte Märkte und künstliche Intelligenzen mit genügend Daten angefüttert werden, um “die Zukunft” hervorzubringen, die für den Menschen angeblich viel zu komplex sei. Kapitalistische Zukunft entzieht den Menschen Gestaltungsmacht und übergibt sie an Märkte, deren Komplexität bewusst als undurchsichtige Blackbox konstruiert wurde. 

Aufsteiger*innen im Kapitalismus müssen sich, so die Erzählung, nur jeweils genug anstrengen, um zu den Gewinnern der Zukunft zu gehören. Im Rap kann diese “Du bist deines Glückes Schmied”-Logik nachvollzogen werden. Zumeist feiern sich diejenigen ab, die es geschafft haben und ”peilen die Zufälligkeit der eigenen Privilegien nicht” wie Pöbel MC das schön formulierte.

Manifestiere ich den Zukunftsglauben oder öffne ich die Zukünfte für andere mit wenigen Privilegien und ähnlichem Hintergrund? Das könnte hier eine Zielfrage sein. Oder ganz konkret für die Rappers: Vergesse ich die strukturellen Probleme aus denen ich komme oder verwende ich meine hinzugewonnene Macht, um sie ein Stück weit zu ändern? 

Zukünfte betonen die Offenheit der niemals vollständig vorhersehbaren Zukunft – und damit die individuelle und gesellschaftliche Gestaltungsmacht im hier und jetzt. Wir tragen für das, was in Zukunft sein wird Verantwortung. Diese Verantwortung sieht für alle etwas anders aus – je nach Lebenssituation, Klasse, Alter etc. 

Alternativen imaginieren & psychische Gesundheit

Der Psychologe und Zukunftsforscher Reinhold Popp entwickelt in seinem Buch “Zukunftsforschung und Psychodynamik – Zukunftsdenken zwischen Angst und Zuversicht” eine für mich und dieses Thema zentrale These: Wer psychisch gesund sein will, muss in der Lage sein sich eine zukünftige Veränderung zum Besseren vorstellen zu können und entsprechend zu handeln. Entsprechend seltsam mutet es für mich an, dass wir das sprachlich nicht abgebildet haben. Wie gezeigt steht “die Zukunft” eben primär für eine feststehende im kapitalistischen Sinne, die wenig selbst ausgesucht ist. 

Entsprechend denken wohl viele es gäbe nur die eine Zukunft und fantasieren deutlich weniger über mögliche Entwicklungen als es möglich und – mit Blick auf Themen wie Klima, Arbeit oder Geschlecht – nötig wäre. Die Zukunft als Verlängerung dessen, wie wir Welt erlebt haben, wird als Naturzustand simuliert. Dabei ist sie anerzogen, vorgelebt, Kultur geprägt und vor allem durch Schule geformt, die zum funktionieren trimmt.

Bleiben wir philosophisch könnte man sagen: Ja, es gibt auch nur eine Zukunft. Doch diese ist, wenn wir sie erreicht haben, längst zu Gegenwart geronnen – und von dem jeweils gegenwärtigen Moment aus gibt zwangsläufig vielfältige Möglichkeiten für kommende zukünftige Gegenwarten. Der springende Punkt dabei: Auf diese Form der Zukunft haben wir keinen Zugriff. Stattdessen kann der Mensch sich nur aus der Gegenwart heraus mögliche Zukünfte überlegen. Solche gegenwärtigen Zukünfte zeigen an, was wir uns heute für Bilder davon machen, wie Zukunft sein könnte. Diese Vorstellungen sind recht wandelbar und geprägt davon, dass sich eine der alternativen Zukünfte zur neuen Gegenwart aufgeschwungen hat. Dadurch lernen wir und ändern unsere Vorstellungen von gegenwärtigen Zukünften. 

Die Annahme es gäbe nur eine Zukunft wirkt auf mich arg dystopisch-totalitär, was allerdings zu viel Film- und Fernsehmaterial unserer Zeit passt. Aber: Ich kann doch heute so viele Möglichkeiten denken. Und manche davon kann ich realisieren. Ist die Auswahl schon vorgeschrieben? Ich glaube nicht. Ich kann mich öffnen und mir Fragen stellen und mir Fragen stellen lassen. Wenn ich auf Gruppierungen / Bubbles / Menschen treffe, die ich irgendwie reizvoll finde, kann ich soweit darin eintauchen, dass ich glaube sie und ihre Zukunftsvorstellungen ganz gut zu verstehen – dadurch wandelt sich dann auch meine wieder. Das ist für mich leben. 

Alternativlosigkeit: Warum noch handeln? 

Verantwortung für zukünftige Gegenwarten übernehmen heißt sich den gegenwärtigen Zukünften klar zu werden und Verantwortung für das übernehmen, was man (nicht) haben möchte, statt sich auf dem scheinbar Wahrscheinlichen auszuruhen. Mit einem “ich kann doch eh nix machen” steuert der Mensch nicht nur auf eine scheinbar eh schon fest stehende Zukunft zu – nein: Mit diesem ultimativen Opfermodus schadet Mensch sich und (s)einer Umwelt. Unsere Weltwahrnehmung im Kapitalismus ist zwar paradigmatisch nicht Handlungsorientiert und Dystopien sorgen für Rückzug ins Private – “Dann lass ich es mir wenigstens noch ein bisschen gut gehen.” Die ultimative Verantwortungsabgabe.

Scheinbar rationale Wahrheitsansprüche wie dass wir die Kipppunkte eh schon überschritten hätten und die Zukunft der Erde zerstört ist, wird doch nur durch fehlendes Handeln wahr. Doch überall auf der Welt zeigen Vorreiter*innen, wie sie Dinge aufbauen. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die Veränderungen mit offenen Armen begrüßt und systemisch stärkt. Es gilt auf einer Mesoebene – also innerhalb kleinerer Gruppen, in denen menschlicher Austausch noch möglich ist – nichts als gesetzt anzunehmen. Erkennen, wieso Dinge aktuell sind wie sie sind und mit dieser Brille des Status Quo das Licht sanft etwas heller drehen. Wir tauschen nicht das ganze Auge, sondern justieren nur um ein paar Dioptrien, um eine Fehlsichtigkeit auf mögliche Zukünfte optimal auszugleichen.

Jennifer Gidley, eine Bildungswissenschaftlerin, Psychologin und Zukunftsforscherin, fordert eine kritische Zukunftsforschung dazu auf das Business as usual zu erkennen und herauszufordern. Ihr empfehlenswertes Büchlein “the future – a very short introduction” liefert dabei schon in der Einleitung eine interessante Auseinandersetzung darüber, warum sie das Werk nicht mit “futures” betiteln konnte. 

Gegenwärtige Zukünfte sind ein permanenter, herausfordernder Prozess aus Offenheit, Erkennen, Herausfordern, Alternativen und Machen. Achso: Und wieder von vorn: Was funktioniert am bisherigen Prozess, das beibehalten werden soll? Was funktioniert am Neuen? Was sind die großen Probleme?

Planung mit einer Zukunft und möglichen Zukünften

Gidley sagt über Scenario planning: “(It) is a broad methodology that can be used within any of the various approaches to futures studies. To understand which futures approach underlies the scenarios we need to look for the key terms, theories, goals, descriptors, and associated research methods.” Eine Folge davon ist, dass verschiedenste Zukünfte immer noch Menschen diskriminieren und ausschließen können. Wer keine Stimme hat, kommt weniger darin vor. Der Unterschied ist, dass wir bei der Reflektion der jeweiligen gegenwärtigen Zukünfte hoffentlich mitdenken können, wer hierin nicht vorkommt. 

Bauen wir Szenarien, um Orientierung und Handlungsfähigkeit herzustellen und später durch neu gelerntes wieder weitere zukünftige Gegenwarten zu entwickeln – oder, um den einen Plan zu entwickeln, alle anderen möglichen Zukünfte zu knechten, d.h. hin zugunsten einer Zukunft zu schließen? Für letzteres steht Volkswagen (VW), wie mir eine Promotionsschrift am Lehrstuhl Zukunftsforschung an der FU Berlin zeigte. Hierin machte der Doktorand relativ unverblümt deutlich, dass VW eine von ihnen gewünschte Zukunft anhand eines Kriterienkatalogs relativ klar herstellen kann. Sind die Kriterien – a la Checkliste – erfüllt, wird die VW-Zukunft kommen. 

Überrepräsentierte technologische Zukünfte

Roland Benedikter, Mitglied des Zukunftskreises des Bundesministeriums für Bildung- und Forschung, denkt zwar in Zukünften, dabei lässt er aber im Interview mit der Konrad Adenauer-Stiftung seinen eigenen Biases freien Lauf. 

https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/zukunft-zukuenfte

Aus diesem Zitat ist ganz klar ersichtlich, was er schon als feststehende Zukunft sieht. Seine Zukünfte sind in einem ganz schmalen Korridor offen. Das Problem dabei sind seine Beispiele, denn die KI von Sophia kann längst nicht so viel, wie sich “kluge” PR-Strateg*innen ausgedacht haben. The Verge schreibt dazu: “Sophia the robot is a bit of a non-persona non grata in the AI community. Its creators, Hanson Robotics, consistently exaggerate the bot’s abilities, pretending that it’s “basically alive,” rather than just a particularly unnerving automaton. For AI researchers, this has long been an annoyance, but as artificial intelligence becomes more of a global hot topic and Sophia is given more and more coverage, they’re angry that Hanson Robotics is misleading the public about what AI can and cannot do.”

Mit den anderen Beispielen habe ich mich nicht im Detail beschäftigt. Klar ist aber: KI-Enthusiasten übertreiben seit Jahrzehnten. Dabei ist keinesfalls sicher, ob es jemals eine starke KI geben wird, wie es ein Roboter wäre, mit dem wir wie mit einem Menschen sprechen könnten. Benediktiner verbreitet hier also Dinge als gesetzt, die weit offener sind. 

Fazit: Haus der Zukünfte und das Denken in Alternativen

Zukünfte sollten ein normaler Teil unseres Denkens und der Sprache werden. Das wäre ein guter Schritt für die Art, wie wir über Welt denken und für einen offener Zugang dazu. Wie so oft, sind auch Zukünfte nicht automatisch die Lösung für alles, sondern viel mehr ein kleiner Schritt weg von Feststehendem, ohne alles über Bord schmeißen zu müssen. Die gute Zukunft ergibt sich nicht passiv, sie ist heute proaktiv gestaltbar. Eine gute Inspiration dafür ist das Haus der Zukünfte – ein interaktives Museum für Zukünfte:

Blogadmin, kritischer Zukunftsforscher und Realutopist. Mehr über den Blogansatz unter dem Menüpunkt Philosophie.

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